Innere und äußere Aspekte der sozialen Frage – Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus und die Problematik des »bürgerlichen Denkens«

Autor/in:
Erscheinungsjahr: 2017
Quellenangaben: Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 87, Heft 11, November 2017, S. 21-36
ISSN: 00 12-6063

Inhalt

  • Die Verbürgerlichung der Dreigliederung
  • Rechtsleben als ›Mitte‹
  • Die gemeinschaftsbildende Kraft des Geisteslebens
  • Geistesleben und Vorgeburtlichkeit
  • Rechtsleben und Kopfdenken
  • Die Aufbaufunktion des Geisteslebens
  • Ausblick

Zitat

„Die Begriffe der Dreigliederung wurden von vielen mit dem Kopfdenken aufgenommen und aus diesem heraus Lösungsansätze erdacht. Das bürgerliche Denken wurde somit mit aller Macht innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft fortgesetzt und gipfelte zum Teil in der Forderung, diese Gesellschaft selbst nach dem Gesichtspunkt des Geisteslebens, des Rechtslebens und des Wirtschaftslebens zu gliedern. Ein Anliegen, das Rudolf Steiner mit dem Satz zurückwies, daß, wer dies fordere, «den Grundnerv unserer Bewegung gar nicht erfaßt hätte» (GA190, S210). Diese Forderung ist allerdings symptomatisch für ein Dreigliederungsverständnis, das sich bis heute in breiter Front verfestigt hat.

Die Menschen glauben, sie könnten vor Ort ihre Einrichtungen in dieser Weise dreigliedern und hätten dadurch etwas Bedeutendes erreicht. Sie merken dabei nicht, daß sie nur die Worte Rudolf Steiners benutzen, ohne sich überhaupt auf dessen begriffliche Bestimmungen einzulassen. In besonders schmerzlicher Weise hat sich folgende Vorstellung über die Dreigliederungsidee verfestigt, die so skizziert werden kann: Im Geistesleben gehe es um den einzelnen Menschen, der seine Fähigkeiten und Begabungen aus der geistigen Welt mitbringt; im Wirtschaftsleben gehe es um die Versorgung des Menschen, d.h. um seine physische Existenzgrundlage, die durch die Erzeugung von Produkten und Dienstleistungen befriedigt werden muss; im Rechtsleben hingegen ginge es um das Verhältnis von Mensch zu Mensch; dieses wird als der Bereich des Zwischenmenschlichen verstanden, bei dem es um Wertschätzung, mündiges Miteinander, Abstimmungsprozesse und Vereinbarungen ginge.

Besonders charakteristisch für diese Sichtweise ist die 1984 erschienene «Der anthroposophische Sozialimpuls» von Dieter Brüll. Dieser hat den «irdischen Sozialkörper» in drei «irdische Glieder» eingeteilt, bei der das mittlere Glied, das Rechtsleben, als das eigentlich soziale Glied bestimmt wurde. Das «irdische Geistesleben» hingegen charakterisierte Brüll als «asozial», da sich dort der Mensch aus dem sozialen Miteinander herausziehe, um seine eigenen Ideen zu entwickeln; das «irdische Wirtschaftsleben» bestimmte er als «antisozial», da hier der Mensch die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stelle und den anderen Menschen als Ausbeutungsobjekt betrachte. Über dem irdischen Sozialkörper entdeckte Brüll ein viertes, geistiges Gebiet, das er als die eigentliche Quelle des Sozialen ausmachte (S60). Dieses Geistige könne durch die richtige Begegnung von Mensch zu Mensch innerhalb des Rechtslebens seine soziale Wirkung entfalten und damit auch auf die beiden anderen Glieder ausstrahlen.

Obwohl Brüll heute so gut wie gar nicht mehr gelesen und auch seine Vorstellungen über das Asoziale und Antisoziale zumeist als befremdlich empfunden wurden, hat sich die Auffassung, daß das Rechtsleben als das eigentliche soziale Glied anzusehen sei, in vielen anthroposophischen Einrichtungen Grundkonsens durchgesetzt. Brüll hat insofern nur einen begrifflichen Ausdruck für eine Auffassung gefunden, die in den Menschen als Gefühl vorhanden war. Ob dieser überhaupt mit dem übereinstimmt, was Rudolf Steiner begrifflich entwickelt, überprüften nur wenige. Denn diese Auffassung eignet sich so wunderbar, um die «Dreigliederung» in der eigenen Einrichtung verwirklichen zu können. Eine Notwendigkeit, das bürgerliche Denken zu verwandeln, wurde nicht erkannt.“