Die Geburt der Waldorfschule aus den Impulsen der Dreigliederung des sozialen Organismus

01.01.1956

Auszug aus dem gleichnamigen Kapitel in: Wir erlebten Rudolf Steiner. Erinnerungen seiner Schüler, 1956, Verlag Freies Geistesleben, Seite 87 – 92

Am 25. April 1919 kam es zu dem entscheidenden Urgespräch über die Gründung der Freien Waldorfschule. Es fand in vorgerückter Abendstunde statt. Rudolf Steiner war von einem großen Abendvortrag, den er vor der Arbeiterschaft der Daimlerwerke gehalten hatte, in das Haus Landhausstraße 70, das Stuttgarter Zweighaus der Anthroposophischen Gesellschaft, gekommen, wo er auch während seiner Aufenthalte in Stuttgart zu wohnen pflegte. Dort erwarteten ihn Emil Molt, Karl Stockmeyer und ich.

Die in dem nun folgenden Gespräch von seiten Rudolf Steiners entwickelten Grundgedanken über die neue Schule wichen in vielem noch von dem ab, was später in die Konstitution der Freien Waldorfschule eingegangen ist. Und dennoch war das Ganze ein Quellen-Gespräch. Sowohl inhaltlich als auch nach seinem ganzen Stil. Denn Rudolf Steiner streifte bald die letzten Spuren der vorangegangenen ungeheuren Anstrengung ab. Immer strömender, immer frischer wurde das, was er uns zu sagen hatte. Und es bezog sich nicht nur auf den konkreten Plan der Schulgründung, sondern auf die Sozial- und Kulturpädagogik ganz im Großen.

Ich will in diesem Zusammenhang auf drei Motive hinweisen, die für mich ganz wesentlich dazugehören.

Ich fragte Rudolf Steiner u. a. danach, an welchem Punkte man heute anpacken müsse, um ein wirklich Soziales im Zusammenleben der Menschen zu veranlagen.

Obwohl die Frage in dieser Form doch nur sehr allgemein und vage gestellt war, ging er mit aller Bereitwilligkeit auf sie ein. Er sagte, man könne über ein so umfassendes Gebiet natürlich stundenlang sprechen. Andererseits wären die Dinge auch ganz einfach auszusprechen. Und nun knüpfte er an die Dreigliederung des Menschen an. Er wies noch einmal auf die verschiedenen Grade der Intensität hin, mit denen Denken, Fühlen und Wollen im menschlichen Bewußtsein wirken: nur das erstere hell wach, das zweite träumend, und das dritte — das Wollen — wie aus dem Tiefschlaf aufsteigend. Das helle und wache Denken, so führte Rudolf Steiner weiter aus, hat die gegenwärtige Form unserer Kultur erst möglich gemacht. Es hat den Menschen zum scharf umrissenen, zum deutlich betonten Erleben seiner Persönlichkeit gebracht. Es hat ihn individualisiert, aber auch entsozialisiert, d. h. aus den natürlichen sozialen Zusammenhängen herausgerissen. Unser gewöhnliches vorstellendes Denken, so unterstrich Rudolf Steiner, ist seiner Natur nach antisozial. „Sie können die gewaltigsten Kongresse abhalten — so sagte er — auf denen nur vom Sozialen und noch einmal vom Sozialen die Rede ist. Solange nur aus dem Kopfmäßig-Intellektuellen gesprochen wird, ist das Resultat solcher Kongresse für das Soziale gleich Null. Im Gegenteil, sie tragen nur noch mehr zur Zersplitterung des Sozialen bei.“

„Das eigentlich Soziale — so fuhr er fort — muß aus jenen tiefer liegenden Bewußtseinsschichten aufgebaut werden, in denen das träumende Fühlen und das schlafende Wollen zuhause sind. Künstlerische Befähigungen und solche, die mit den Quellkräften des Religiösen identisch sind, müssen aufgerufen werden. Aber dies darf nicht so geschehen, daß von der im modernen Menschen errungenen Bewußtseinsklarheit abgesehen wird. Geschähe dies, so würde die menschliche Freiheit preisgegeben. Das klare, selbständige Denken darf nicht aufgeopfert werden, um den Prozeß der sozialen Gestaltung in Fluß zu bringen; es muß sich nur mit neuer Substanz erfüllen, die aus den tieferen Seelenschichten kommt.“

Es gibt, so führte Rudolf Steiner des weiteren aus, auch einen methodischen Weg, das Soziale zu veranlagen. Die Abstraktion des menschlichen Denkens hat zu einer weitgehenden Differenzierung und Spezialisierung im Arbeitsprozeß geführt. Dadurch hat sie die moderne Technik erst möglich gemacht. Aber sie hat zugleich auch den Arbeiter aus den großen Zusammenhängen gelöst, in denen er sich ursprünglich gesund darinnen fühlte. Nur als den Teil eines Teiles kann er sich erleben, und das, was er hervorbringt, nur als den Splitter vom Teil eines Teiles. Mit der Verengung seines Arbeitsfeldes ist zugleich sein Bewußtsein verengt. Die Verengung des ersteren müssen wir als ein Faktum hinnehmen, das zum modernen Arbeitsprozeß dazu gehört; die Verengung des letzteren als ein nicht notwendiges Übel wieder überwinden.

An dieser Stelle blickte ich Rudolf Steiner besonders fragend an. Es wollte mir wie ein Wunder vorkommen, daß die Überwindung des eigentlich Proletarischen im Bewußtsein des Proletariers überhaupt möglich sein sollte.

Wie immer nahm er sofort die Lebhaftigkeit der im Innern des Gesprächsteilnehmers gestellten Frage wahr und stellte das Folgende mit umso größerem Nachdruck dar. Es käme darauf an — so sagte er — für jeden Arbeiter und Angestellten ein Bild vom Ganzen ihrer Arbeit zu schaffen, und auch von den Zusammenhängen, in denen diese Arbeit in der Welt darinnen steht. Er ging gleich von der konkreten Situation in der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik aus. Jeder Arbeiter und jede Arbeiterin müsse über alle Arbeitsvorgänge unterrichtet werden, die sich in den anderen Sektoren des Werkes vollziehen. Sie sollten aber auch ein Bild bekommen von der Tabakpflanze selber, von ihren Anbaugebieten, von der Kultur der betreffenden Länder. Darüber hinaus sollten sie unterrichtet werden über den ganzen Verteilungsprozeß des fertigen Produktes; über die mit einer solchen Verteilung verbundenen wirtschaftlichen und finanziellen Vorgänge. In ähnlicher Weise sollten die kaufmännischen Angestellten vertraut gemacht werden mit allen praktischen Arbeitsvorgängen des Werkes.

Indem jeder, der an einem Werke schafft, — so sagte Rudolf Steiner — ein Bild vom Ganzen bekommt, wird sein Bewußtsein geweitet, sein menschliches Interesse angeregt. Er verrichtet seine Arbeit vielleicht auch weiterhin im schmalsten Sektor, aber er erlebt sich als mit allen anderen geistig verbunden. Nun wird für ihn der soziale Zusammenhang real, und die Zersplitterung wird von innen her aufgehoben.

Rudolf Steiner meinte dann, daß diese Weitung des Bewußtseins durch Vorträge und einführende Kurse geschehen könne. Für jeden Betrieb solle so etwas wie eine Betriebswissenschaft herausgearbeitet werden. Darüber hinaus aber dachte er an ein gastweises Delegieren einzelner Arbeiter in die verschiedensten Abteilungen des Werkes; an ein „Hospitieren“ und vorübergehend auch an ein Praktizieren.

Es ist gewiß sozialgeschichtlich von Bedeutung, hervorzuheben, daß diese Dinge von Rudolf Steiner im April 1919, also gleich nach dem ersten Weltkrieg ausgesprochen wurden; und daß sie noch im gleichen Jahr in der Waldorf-Astoria praktiziert wurden. Sie sind durch allzustarke engstirnige Gegeninteressen, bald von dieser, bald von jener Seite, in Mitteleuropa wieder untergegangen, um nach dem zweiten Weltkrieg als ein angebliches Novum aus Übersee wieder aufzutauchen.

Man könnte sich vielleicht wundern, daß Ausführungen dieser Art in einem Grundgespräch über das Entstehen einer neuen Schule figurierten. Aber eben das war für die Gespräche, die man mit Rudolf Steiner führen durfte, so charakteristisch, daß er sich nie systematisch oder gar pedantisch an ein Thema hielt, sondern daß er aufgriff, was ihm aus den lebendigen Interessen der Gesprächsteilnehmer entgegenkam.

Ich erinnere mich noch an ein drittes Motiv, das er in diesem Gespräch anschlug. Jetzt handelte es sich darum, durch eine geistgegründete Völkerpsychologie eine Brücke zu schlagen von Volk zu Volk. Als einen Weg dazu sah Rudolf Steiner den Unterricht in den Fremdsprachen, namentlich in den sogenannten neueren Sprachen, an. In jeder Sprache seien ganz bestimmte Anschauungen von Wesen und Dingen festgehalten, die sich in Imaginationen, in Bildern aussprechen. Es käme darauf an, den Kindern und jungen Menschen mit der fremden Sprache solche Bilder, solche Worte zu übermitteln. Rudolf Steiner nannte sie „sprachliche Valeurs“. Dann kam er auf den völkerpsychologischen Vortragszyklus zu sprechen, den er im Sommer 1910 im Nobelhause in Oslo gehalten hatte: „Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie“. Als er von diesen Vorträgen sprach, wurde er tief ernst. Er sagte: „Diese Dinge waren so gemeint, daß sie bei rechtem Erfassen hätten helfen können, die Weltkriegskatastrophe zu vermeiden. Aber man verstand nicht zu hören ...“ Und nun erzählte er, wie er vor einiger Zeit dem Prinzen Max von Baden, dem bekannten deutschen Staatsmanne, sogar ein eigens kommentiertes Exemplar des Osloer Zyklus übersandt habe. In der Hoffnung, daß die damalige deutsche Staatslenkung sich durch neue Ideen, neue Erkenntnisse befruchten lasse. Und mit einem unvergeßlichen, tief schmerzlichen Ausdruck sagte er nun: „Aber man verstand nicht zu hören. Nein, man wollte nicht hören. So ist die Katastrophe gekommen.“ Wir schwiegen, und es entstand eine Pause. Mit starkem, ernstestem Nachdruck auf jedem Wort, schloß Rudolf Steiner ab: „Es werden noch weit schlimmere Katastrophen der jetzigen folgen, wenn man fortfahren wird, diese Dinge nicht zu hören.“

Ich habe gerade diese drei Motive aus dem Gründungsgespräch so ausführlich dargestellt, weil sie nur anscheinend außerhalb des Gedankenkreises der Waldorfschulpädagogik stehen. Wer sich intensiver mit letzterer beschäftigt, wird erstaunt sein zu sehen, daß jedes von ihnen aufs intimste mit Methodik und Praxis der Waldorfschulen zusammenhängt. Und so hätten wir auch hier ein Beispiel dafür, wie die Pädagogik der Waldorfschule aus der großen Zeit- und Kulturdiagnose heraus geboren ist, die Rudolf Steiner im Beginn der sozialen Dreigliederungs-Bewegung stellte.