Schweiz, Demokratie und Dreigliederung

21.02.2021

Quelle
Zeitschrift „Ein Nachrichtenblatt“
11. Jahrgang, Nr. 5, 21. Februar 2021, S. 3
Bibliographische Notiz

Die Schweiz ist weltweit bekannt und geachtet für ihre Demokratie. Die Schweizer dürfen nicht nur ihre Vertreter in die Parlamente und in die Regierungen wählen, sondern mit Hilfe von Volksinitiativen selbst Gesetzesvorschläge ausarbeiten und mittels Referendum ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz vor das Volk bringen. Das letzte Wort liegt beim Volk. Wäre es nicht denkbar zu sagen: An der Schweizer Demokratie soll die Welt genesen?

Beschäftigt man sich als Schweizer mit der Dreigliederung, so kann man eine spannende Entdeckung machen. Als Rudolf Steiner im Oktober 1921 einen Rednerkurs hielt, der speziell für Menschen gegeben wurde, die in der Schweiz für die Dreigliederung Vorträge halten sollten, machte er in Bezug auf das Schweizer Demokratieverständnis folgende Aussage: «Eigentlich verstehen gerade von wirklicher Demokratie die Schweizer am allerwenigsten.» (GA 339, 14. Oktober 1921)

Wie? War denn die Schweiz damals vor gut hundert Jahren noch ganz anders? War die Schweiz damals etwa noch nicht «demokratisch»?

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die beiden Instrumente der direkten Demokratie, das Referendum (eingeführt 1874) und die Volksinitiative (eingeführt 1891), schon vorhanden waren! Liegt es etwa daran, dass das Frauenstimmrecht, im Gegensatz zu Deutschland und Österreich, erst viel später eingeführt wurde?

Nein, daran lag es nicht. Die Begründung war für Rudolf Steiner eine ganz andere:

«Durch die Verhältnisse der neueren Menschheitsentwicklung ist das eigentliche Staatsleben als solches, das sich eigentlich im Rechtsstaat ausleben sollte, im wesentlichen verschwunden, und was sich im Staate auslebt, ist eigentlich ein chaotisches Zusammensein der geistigen Elemente des menschlichen Daseins und der wirtschaftlichen Elemente. Man könnte sagen: In den modernen Staaten haben sich allmählich die geistigen Elemente und die wirtschaftlichen Elemente durcheinandergeschweisst, und das eigentliche Staatsleben ist zwischendurch eben heruntergefallen, eigentlich verschwunden. Die ist besonders innerhalb der schweizerischen Verhältnisse bemerkbar. Da haben wir es überall zu tun mir einer in ihren eigentlichen Ausgestaltungen unmöglichen, scheinbaren Demokratisierung des geistigen Lebens und mit einer Demokratisierung des Wirtschaftslebens, und damit, dass die Leute glauben, dieses scheinbar demokratisierte Gemisch von Geistesleben und Wirtschaftsleben, das wäre eine Demokratie. Und da sie sich ihre Vorstellung von Demokratie gebildet haben aus dieser Mischung heraus, da sie also eine vollständige Scheinvorstellung von Demokratie haben, so ist es so schwierig gerade zu den Schweizern von wirklicher Demokratie zu sprechen». (GA 339, 14. Oktober 1921)

Rudolf Steiner wies im Rahmen seiner Ausführungen über die Dreigliederung darauf hin, dass demokratische Entscheidungsverfahren nur Sinn machen für die Regelung derjenigen zwischenmenschlichen Verhältnisse, die uns als Gleiche unter Gleichen betreffen. Er nannte dieses Gebiet das ‘Rechtsleben’. Darin gibt es keine individuellen Urteile, welchen ein grösseres Gewicht als anderen zukommen kann. Das Urteil eines jeden volljährigen (mündigen) Menschen ist gleichwertig.

Damit ist auch das Kriterium charakterisiert, mit Hilfe dessen Rechtsfragen als solche erkannt werden können. So kann zum Beispiel die Frage, ob der Kinderarzt dieses oder jenes Medikament anwenden sollte, durchaus nicht jeder, ob Bankfachmann, Kellnerin oder Ärztin, gleichermassen beantworten. Dasselbe gilt auch für pädagogische Fragen. Demokratisch als Land darüber abzustimmen, welches Lehrmittel in der Sekundardarstufe I in Mathematik verwendet werden soll, ist offensichtlich nicht geeignet, um für das Kind das beste Lehrmittel zu eruieren.

Und dennoch sind heute auf dem Gebiet der Gesundheit und der Bildung in der Schweiz demokratisch gewählte Volksvertreter in Schlüsselpositionen. Wir wählen unsere Gesundheitsminister und Bildungsdirektoren und sind zufrieden, wenn sie für die Gesundheit und die Bildung des Schweizer Volkes sorgen.

Die Konsequenz bekommen wir heute immer deutlicher vor Augen geführt: Vereinheitlichung und Ausschaltung alles Individuellen!

Welches sind nun jedoch die Rechtsfragen, wenn die Gebiete, in welchen ‘Mehrheitsentscheide’ nicht zielführend sind, auf eigene Füsse gestellt werden? Wozu brauchen wir den Rechtstaat?

Es wäre natürlich praktisch, wenn man dazu eine Definition geben könnte. Doch, wie Rudolf Steiner zu den Schweizer Rednern sagte, ist eben gerade dies nicht möglich. Um das Gebiet des Rechtslebens als solches zu erkennen, muss überhaupt erst das Empfindungs- und Gefühlsleben ausgebildet werden, um dieses zu erleben:

«Daher handelt es sich darum, dass man hier [in der Schweiz] ganz besonders tief einschärft, dass das Recht etwas ist, was man nicht definieren kann, so wie man Rot oder Blau nicht definieren kann, dass das Recht etwas ist, was in seiner Selbständigkeit erlebt werden muss, und was erlebt werden muss, wenn sich als Mensch bewusst wird jeder mündig gewordene Mensch. Es wird sich also darum handeln, zu versuchen, für die schweizerischen Mittel gerade dieses Menschliche Empfindungs- und Gefühlsverhältnis im Rechtsleben herauszuarbeiten, dass im einzelnen Menschen die Gleichheit leben müsse, wenn Rechtsleben da sein soll» (GA 339, 14. Oktober 1921).

Wo viel Dunkel ist, ist auch viel Licht. Ist nicht die Überwindung des Irrtums das beste Mittel zur Erkenntnis? Ist es nicht möglich, gerade hier in der Schweiz, in diesem einmaligen Spannungsfeld aus maximal missverstandener Demokratie und unserem Schweizer Stolz auf unsere weltweit geachtete «Vorzeigedemokratie» – eine echte Demokratie zu begründen?!

Indem man freie Geistgemeinschaften bildet, die auf eigenen Füssen stehen, kann man für die Freiheit im Geistesleben wirken. Als solches war im Selbstverständnis Rudolf Steiners die anthroposophische Gesellschaft wirksam. Dies machte er sehr deutlich, als jemand vorschlug, man könnte doch mit der Dreigliederung innerhalb der anthroposophischen Gesellschaft anfangen:

«Seit es eine Anthroposophische Gesellschaft gibt, beziehungsweise seit sie mit ihrem anthroposophischen Inhalt zur Theosophischen Gesellschaft gehört hat, wo war irgend etwas, was hier innerhalb dieser geistigen Gemeinschaft getrieben wird, im geringsten Grade abhängig von irgendeiner staatlichen oder politischen Organisation? Vom ersten Tage dieser Gesellschaft an war mit Bezug auf das Geistesleben, das vor allen Dingen unsere Aufgabe ist, unser Ideal erfüllt!» (GA 190, 14. April 1919)

Man kann dies im Rahmen des Erlaubten und Möglichen tun. Der Einheitsstaat hat jedoch die Tendenz, die Freiheitsräume mehr und mehr zu eliminieren. Schulen dürfen heute z.B. nur staatlich-anerkannte Lehrpersonen anstellen. Die Ärzte dürfen sich nur noch bedingt öffentlich gegen die Maskenpflicht aussprechen. Kann daran nicht die Erkenntnis gewonnen werden, dass auch noch auf anderem Wege für die Freiheit des Geisteslebens gewirkt werden muss?

Rudolf Steiner sah im Kontext seiner Dreigliederungsarbeit deutlich, dass für die Freiheit des Geisteslebens auch im politischen Kontext gewirkt werden muss:

«Das prinzipiell Richtige, im Sinne der Dreigliederung konsequent gedacht, wäre: an den Wahlen sich beteiligen, so viele wählen lassen als gewählt werden können, ins Parlament eintreten und Obstruktion treiben bei allen Fragen, die sich auf Geistesleben und Wirtschaftsleben beziehen. Das würde konsequent im Sinne der Dreigliederung gedacht sein. Es handelt sich darum, abzugliedern den mittleren Teil, das Staatsleben. Das kann nur herausgeholt werden, wenn das andere links und rechts abgeworfen wird. Das kann man dann nicht anders tun, als indem man sich wirklich wählen läßt, eintritt und Obstruktion treibt bei alle dem, was verhandelt und beschlossen wird auf dem Gebiete des Geistes- und Wirtschaftslebens. Das wäre konsequent gedacht im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus.» (GA 337A, 3.3.1920)

Wurde dieser Impuls in der Schweiz schon ergriffen? Wie viele Menschen sind heute in den Parlamenten, die ein Verständnis der Dreigliederung haben?

Eine kurze Recherche von mir ergab, dass es fast niemanden gab oder gibt (eine der wenigen Ausnahmen ist Rudolf Hafner, der im Nationalrat gewesen ist). Ist es von daher verwunderlich, dass die Möglichkeiten eines freien Geisteslebens (und auch eines assoziativen Wirtschaftslebens) immer mehr beschnitten werden?

Aufgrund dieses Sachverhalts und den hier dargelegten Ideen wurde das Projekt «Fördergesellschaft Demokratie Schweiz» ins Leben gerufen.

Fördergesellschaft Demokratie Schweiz

Die Fördergesellschaft Demokratie Schweiz wurde im Jahr 2020 von Fionn Meier und Kristina Jatho gegründet. Ihr Ziel ist es, in der Schweiz für die breite Öffentlichkeit Aufklärung zu leisten und politisch aktiv zu werden, damit hier ein echtes Demokratieverständnis erwirkt werden kann.

Es sollen öffentliche Vorträge, Seminare und Debatten geführt werden, in denen unser Demokratie-Verständnis neu gegriffen werden kann. Die aktuellen Umstände bieten die besten Voraussetzungen dazu, denn es ist mit Händen zu greifen: Unser Fundament ist wacklig! Nein, wir brauchen keinen ‘Great Reset’ – wir brauchen eine echte Demokratie!

Wir suchen Mitglieder, Förderer/Innen und weitere Initiativ-Kollegen/Innen.

Weitere Infos: www.demokratie-schweiz.ch