Dreigliederung – Wirkungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten

03.10.2022

Quelle
Erstveröffentlichung in der Zeitschrift „Ein Nachrichtenblatt“
Jahrgang 12, Heft 16, 14.08.2022, S. 1-6
unter dem Titel «Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden» - !?
Bibliographische Notiz

Im Nachrichtenblatt Nr. 15 findet sich unter dem Titel «Die Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden» die von Polzer Hoditz überlieferte Aussage von Rudolf Steiner, die er angeblich während des Landwirtschaftlichen Kurses am 11. Juni 1924 in Koberwitz machte:

«Mitteleuropa hat die Zeit versäumt, in welcher es hätte mit der Dreigliederung ordnend eingreifen können. Heute ist es für Mitteleuropa zu spät. Die Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden, in welcher sie Mitteleuropa hätte retten können. Nur vom Westen könnte mit der Dreigliederung noch etwas gemacht werden.»

Diese Aussage kann verschiedene Fragen aufwerfen. Zum Beispiel: «Weshalb war die Zeit, in der die Dreigliederung Mitteleuropa hätte retten können, damals vorbei?» Oder: «Bedeutet dies, dass es sich in Mitteleuropa nicht mehr lohnt, mit der Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus zu beschäftigen?» Oder: «Weshalb kann der Westen mit der Dreigliederung noch etwas machen?»

Im Folgenden wird versucht, auf diese Fragen ein paar Schlaglichter zu werfen, indem weitere Aussagen von Rudolf Steiner zugezogen werden.

Wirkungsmöglichkeiten

Zur ersten Frage gibt es verschiedene klare Hinweise von Rudolf Steiner, weshalb er zu dieser Beurteilung der Lage kam. Als er im Sommer 1922 in Oxford seine Vorträge über die Pädagogik hielt, beendete er diese mit drei Vorträgen zur «sozialen Frage». In Hinblick auf die Dreigliederungsbemühungen in Deutschland sagte er am 28. August 1922 folgendes:

«Aus diesem Grunde meine ich, dass meine «Kernpunkte der sozialen Frage», wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind – es ist ja ein bisschen übertrieben, aber es ist fast so –, wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind, und im Jahre 1919 eine ungeheuer schnelle Verbreitung gefunden haben, dass das ganz natürlich ist. Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den «Kernpunkte der sozialen Frage» steht, realisieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa. Der ist in dem Augenblicke vorüber gewesen, als jener starke Valutaniedergang eingetreten ist, der der deutschen Wirtschaft völlig die Hände bindet.»

In dieser Zeit war die Geldentwertung in Deutschland in vollem Gange. Die hohen Kriegsausgaben und die Ablösung der Mark vom Goldstandard alleine hatten schon zur Inflation geführt. Mit den Reparationszahlungen, die in den Verträgen von Versailles 1919 Deutschland aufgebürdet wurden, war die Hyperinflation nicht mehr zu stoppen. Im Jahr 1923 wurde nicht mehr mit 1 Mark gerechnet, sondern mit einer Billion Mark!

Etwa einen Monat vor den Vorträgen in Oxford, vom 24. Juli bis zum 6. August, hielt Rudolf Steiner in Dornach den «Nationalökonomischen Kurs», in dem er die Grundlagen einer zukünftigen Wirtschaftswissenschaft darlegte. Darin kam er ebenfalls auf den Valutaniedergang in Deutschland zu sprechen und die Konsequenz, welche dieser für die Dreigliederungsbemühungen hat.

In diesem Zusammenhang wird nun deutlich, dass Rudolf Steiner die sozialen Bestrebungen in Mitteleuropa, auch wenn die Dreigliederungsbemühungen nicht erfolgreich waren, nicht auf Eis legen wollte. Er wollte nur darauf hinweisen, dass diese nun anders angegangen werden müssen:

«Ich will heute nur äußerlich charakterisieren: das Wichtigste war, dass man zunächst die Dreigliederung in möglichst viele Köpfe hineingebracht hätte, bevor die wirtschaftlichen Folgen aufgetreten sind, die seither eingetreten sind. Sie müssen bedenken, als die Dreigliederung zuerst genannt worden ist, standen wir noch nicht vor den Valutaschwierigkeiten von heute; im Gegenteil, wäre damals die Dreigliederung verstanden worden, so hätte sie nie kommen können. Aber wiederum stand man vor der Unmöglichkeit, dass die Menschen so etwas in wirklich praktischem Sinn verstanden. Man versuchte damals, die Dreigliederung verständlich zu machen, aber dann fragten die Leute: Ja, das wäre alles schön, wir sehen es auch ein; aber das erste ist ja doch, dass wir dem Niedergang der Valuta entgegenarbeiten. – Ja man konnte den Leuten nur sagen: Das steckt ja in der Dreigliederung! Bequemt euch zu der Dreigliederung, sie ist das einzige Mittel, um gegen den Valutaniedergang zu arbeiten! – Die Leute fragten gerade, wie man das macht, was doch gerade die Dreigliederung hätte treffen sollen. Sie verstanden also die Dreigliederung nicht, wenn sie das auch immer behaupteten.

Und so liegt heute die Sache so, dass man sagen muss: Spricht man heute wiederum zu Persönlichkeiten, wie Sie es sind, so kann man nicht mehr in denselben Formen sprechen wie dazumal, sondern heute ist eine andere Sprache notwendig. Und das ist das, was ich Ihnen jetzt in diesen Vorträgen hier geben möchte. Ich möchte Ihnen zeigen, wie man heute nun wiederum über die Fragen zu denken hat, namentlich wenn man jung ist und man noch mitwirken kann an dem, was sich einmal in der nächsten Zeit gestalten muss.» – Dornach, 24.07.1922.

Liest man diesen Schluss, so ist deutlich, dass Rudolf Steiner nicht zum Rückzug in das «Anthroposophisch-Schöngeistige» aufgerufen hat. Die Lage wird neu beurteilt und es wird gesehen, dass, um im sozialen Gegenwartsgeschehen heilsam wirksam zu werden, eine neue Sprache gefunden werden muss.

In diesem vierzehntägigen Wirtschaftskurs arbeitete Rudolf Steiner mit der goetheanistischen Erkenntnismethode die Phänomene des Wirtschaftslebens durch. Dadurch besteht heute für alle Menschen die Möglichkeit, sich ein Verständnis dessen anzueignen, was eigentlich das Wesen von Ware, Arbeit, Kapital und Geld ist und wie diese zusammenspielen. Dies ist im Wesentlichen die «andere Sprache», von der Rudolf Steiner sich Möglichkeiten versprach, weiter in der Welt zu wirken.

Durch einen Vergleich des Inhalts des Buches «Kernpunkte der sozialen Frage» mit dem Inhalt des «Wirtschaftskurses» kann nun aber Folgendes beobachtet werden. Durch die goetheanistische Charakterisierung der Entstehung und Wirksamkeit des Kapitals im wirtschaftlichen Zusammenhang wird von sich aus deutlich, dass Kapital durch ein freies Geistesleben verwaltet werden muss, wenn es für das Wirtschaftsleben fruchtbar werden soll. Beim goetheanistischen Zugang zum Wesen des Geldes wird ebenfalls von sich aus deutlich, dass dieses, wenn es nicht als störendes Element die Preise der Waren verfälschen soll, nicht vom Staat verwaltet werden darf, sondern nur von den am Wirtschaftsleben Beteiligten selbst. Usw.

Mit anderen Worten: Vergleicht man diese Ideen, welche im Nationalökonischen Kurs erarbeitet werden mit den «Urgedanken», welche in dem Buch «Kernpunkte der sozialen Frage» beschrieben werden, so wird deutlich, dass beide das Gleiche beschreiben. Nur der Ausgangspunkt ist ein anderer.

Wenn man auf einen Berg steigen möchte, kann man dies von verschiedenen Richtungen. Kommt man auf den Gipfel, so ist die Aussicht jedoch dieselbe.

Es gab für Rudolf Steiner jedoch noch andere Gründe als die Inflation, weshalb der Berg von einer anderen Seite her bestiegen werden musste. In anderen Zusammenhängen machte Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass in Mitteleuropa in einer kurzen Zeit ein starker Umschwung in der inneren Einstellung der Bevölkerung stattfand. Weiter auch, dass nicht nur die Wirtschaft am Boden lag, sondern auch die Politik. Während bis zu einem gewissen Zeitpunkt noch die Möglichkeit bestand, durch die Politik für die Dreigliederung zu wirken, so war dies danach nicht mehr möglich.

«Alles dasjenige, was heute in solchen Dingen von Anthroposophie kommt, steht durchaus auf dem Boden der Wirklichkeit und ist immer darauf aus, den Boden der Wirklichkeit nicht zu verlassen. Die Dreigliederungsbewegung hat im Frühling 1919 begonnen, in der Zeit, als besonders über Mitteleuropa eine erwartungsvolle Stimmung bei großen Teilen der Bevölkerung ausgegossen war. Diese erwartungsvolle Stimmung war allerdings in verschiedener Weise ausgegossen, aber es war eine solche Stimmung da, ich möchte es einfach so ausdrücken, daß eine größere Anzahl von Menschen glaubte, wir sind in das Chaos hineingeworfen und wir müssen durch vernünftige Harmonisierung der sozialen Kräfte weiterkommen. Diese Stimmung war vielfach verbreitet, als ich im April 1919 mit der Tätigkeit für die Dreigliederung begann. Nun, ich habe dazumal, aus der Form heraus, die ich meinen Vorträgen über die Dreigliederung gegeben habe, sehr häufig geschlossen damit, daß dasjenige, was da gemeint ist, sehr bald in Wirklichkeit umgesetzt werden soll, denn es könnte sehr bald zu spät sein, und diese Formel „Es könnte sehr bald zu spät sein“ können Sie in den damals nachgeschriebenen Vorträgen sehr häufig finden. Es war dazumal die Zeit, wo man in der Form, wie ich es formuliert habe, hätte etwas ausrichten können, wenn die Gegner nicht zu stark angewachsen wären, eine zu starke Macht geworden wären. Nun liegt ja die Sache so: Es ist seit jener Zeit in Mitteleuropa eine furchtbare reaktionäre Welle heraufgezogen, viel stärker als man denkt, und man muß das durchaus ernst nehmen. Damit ist die Dreigliederung nicht als Prinzip getroffen – das ist dauernd –, aber so wie man dazumal sie verwirklichen wollte, so kann sie nicht mehr verwirklicht werden. Was aus dem Realen der Zeit gedacht ist, ist für die Zeit gedacht, und man würde zum Abstrakten kommen, wenn man so etwas nicht einsehen wollte.» (16.06.1921, Stuttgart, GA 342)

«Die allgemeine Lage jetzt zu besprechen, ist nicht so leicht, weil die Sache gilt, die ich einmal mit immer wieder hervortretender Deutlichkeit gesagt habe, während ich hier die Vorträge über Dreigliederung hielt: Man muß etwas tun, bevor es zu spät ist. Es ist heute zu spät, irgendwie auf dem Felde desjenigen, was man bisher in Europa Politik genannt hat, etwas zu erreichen. Die einzige Anregung, die ich gegeben habe, war die Verwandlung des alten Dreigliederungsbundes in den „Bund für freies Geistesleben“. Diese Anregung ging aus von der Erkenntnis, daß man in der Zukunft für Europa und für die gegenwärtige westliche Zivilisation nur noch etwas tun kann durch die Förderung des Geisteslebens als solches. Von da aus muß alles übrige ausgehen. Sowohl die Dinge, die unter dem gegenwärtigen Regime wirtschaftlich gemacht werden, wie alle politischen Impulse, sind heute machtlos.» (31.01.1923, Stuttgart, GA 300b)

Rudolf Steiner sah ab 1921 die Möglichkeit, für die Dreigliederung zu wirken, als stark eingeschränkt an. Er hatte jedoch weiterhin das Ziel vor Augen: «Dreigliederung des sozialen Organismus». Dieses Ziel gedachte er nun in Mitteleuropa einfach über einen anderen Weg zu erreichen:

«Es ist nur zu hoffen, daß man zunächst noch die letzten Reste der geistigen Impulse sammeln kann, um diese Befreiung des Geisteslebens auf religiösem Gebiet, auf dem Gebiet der Kunst und auf dem wissenschaftlichen Gebiet zu versuchen. Das sind ja die drei Unterformen; jedes der drei Glieder hat ja wieder drei Untergebiete. Das geistige Gebiet hat als Untergebiete Religion, Wissenschaft und Kunst. Wenn es gelingt, auf diesen Gebieten die Befreiung des Geisteslebens zu erreichen, dann werden sich von selber, vielleicht eher als wir glauben, aus dem Vorbild des freien und befreiten Geisteslebens die Leute finden, die auch ein Verständnis haben für die Gleichheit im Staatsleben und für die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben.» (16.06.1921, Stuttgart, GA 342)

Für ein freies Geistesleben einzustehen ist jedoch weiterhin eine gesellschaftspolitische Aufgabe: Der Staat und die Wirtschaft müssen in ihre Schranken gewiesen werden! Diese Aufgabe kann jederzeit angegangen werden. Rudolf Steiner erhoffte gerade von der neu gegründeten Waldorfschule einen Beitrag zur Befreiung des Geisteslebens:

«Wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis entwickeln, daß das ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat, mit allen Kräften dafür einzutreten, daß der Staat diese Schule loslöst, wenn Sie nicht auch den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat anzustreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz, denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben.» (12.10.1920, Dornach, GA 337b)

Die oben angeführten Gesichtspunkte machen deutlich, dass Rudolf Steiner jeweils den besten Ausgangspunkt suchte, wie auf den Gipfel gestiegen werden kann, auf welchem die Gliederung der Gesellschaft in ein freies Geistesleben, ein assoziatives Wirtschaftsleben und ein auf der Gleichheit beruhendem Rechtsleben erreicht wird. Denn diese Gliederung ist für den heilsamen Fortgang der Menschheitsentwicklung absolut notwendig:

«Daher steht Geisteswissenschaft mit vollem Bewusstsein in dem ganzen Ernst der gegenwärtigen Weltlage drinnen, sie weiß, welch großer Kampf sich abspielt zwischen dem, was aus der Geisteswissenschaft heraus an sozialen Impulsen der Dreigliederung kommen kann und demjenigen, was als bolschewistische Welle, die zum Unheil der Menschheit führen würde, sich dieser Dreigliederung entgegenwirft. Und ein drittes neben diesen beiden gibt es nicht. Zwischen diesen beiden muss sich der Kampf abspielen. Das muss man einsehen.» (Dornach, 17.10.1920, GA 200).

Der Bolschewismus von Trotzki und Lenin im damaligen Russland war nur eine Spielart des von Rudolf Steiner hier gemeinten «Bolschewismus». Steiner betrachtete jede Gestaltung der Gesellschaft aus dem reinen Intellekt heraus als Bolschewismus. So bezeichnete er z.B. auch Johann Gottlieb Fichte im Zusammenhang mit seinem Buch «Der geschlossene Handelsstaat» als Bolschewist:

«Es wird nicht zu leugnen sein, daß Johann Gottlieb Fichte einer der energischsten Denker der neueren Zeit war. Es wird auch nicht zu leugnen sein, daß er ein Idealist im echtesten Sinne des Wortes war. Aber Johann Gottlieb Fichte hat seine sozialistische Anschauung auch ausgesprochen in einer kleinen kompendiösen Schrift, in seinem «Geschlossenen Handelsstaat». Inhaltlich genommen, wenn man darauf sieht, wie sich das in der Wirklichkeit gestalten würde, was Fichte da als eine Art Idealbild sozialer Zustände darstellt, kann man nur sagen: verwirklicht würde dieses soziale Ideal, das Fichte in seinem kompendiösen kleinen Büchelchen «Der geschlossene Handelsstaat» darstellt, verwirklicht würde es sich ausnehmen als Bolschewismus.» (02.03.1919, GA 189)

Damit wird auch klar, weshalb es nur die beiden Alternativen «Dreigliederung oder Bolschewismus» gibt. Es spielt keine Rolle, ob der Bolschewismus als «Kommunismus», «Great Reset» oder «grüne Politik» daherkommt. Der reine Intellekt, mag er materialistisch oder idealistisch ausgerichtet sein, kann die lebendige soziale Wirklichkeit nur zerstören! Die soziale Wirklichkeit kann nur mit Hilfe der Methode der Geisteswissenschaft erfasst werden. Diese Notwendigkeit macht auch den Schluss des Nationalökonomischen Kurses verständlich. Im letzten der vierzehn Vorträgen weist Rudolf Steiner eindringlich darauf hin, wie mit Hilfe einer solchen geisteswissenschaftlich-gedanklichen Durchdringung der sozialen Wirklichkeit der Welt Gedanken gegeben sind, welche für den Wiederaufbau des Menschheitslebens benötigt werden:

«Es ist in der Welt heute vieles, was als Agitationsphrase einen furchtbaren Schaden anrichtet, weil so wenig Menschen da sind, die ernsthaft den Willen haben, auf die Wirklichkeiten einzugehen. Deshalb war es mir eine tiefe Befriedigung, dass Sie hierher gekommen sind und sich mit mir haben vierzehn Tage lang beschäftigen wollen, durchzudenken das Gebiet der Volkswirtschaft. Ich danke Ihnen herzlich dafür; denn ich darf diesen Dank aussprechen, weil ich zu wissen glaube, was es für eine Bedeutung hat, dass gerade die, die heute im Leben als Akademiker stehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft, werden ungeheuer viel mitarbeiten können an der Gesundung unseres Kulturleben, an dem Wiederaufbau des Menschheitslebens.» (Dornach, 06.08.1922).

Das Zitat zeigt deutlich wie kaum ein anderes: Auch nach dem Scheitern der ersten Dreigliederungsbemühungen hat die erkenntnismässige Durchdringung der sozialen Wirklichkeit unbedingt weitergeführt zu werden. Hierin setzte Rudolf Steiner die grösste Hoffnung!

Eine andere Aussage, in der Rudolf Steiner ebenfalls bekräftigt, dass die Erkenntnisarbeit in Bezug auf den sozialen Organismus weiterhin notwendig ist, zeigt, dass er diesbezüglich auch nach der Weihnachtstagung seine Ansicht nicht geändert hat:

«Derjenige Teil der Dreigliederungsbewegung, der rein praktisch hätte durchgeführt werden sollen, zu dem praktisches Zusammenwirken notwendig gewesen wäre, hat sich zunächst nicht bewährt. Dagegen zeigt sich weit über die Grenzen von Europa hinaus, namentlich auch in Amerika, ein reges Interesse für diese Impulse. Lassen Sie mich dieses Wort, über das so viel geschimpft worden ist, gebrauchen: es sind eben Realitäten in der Dreigliederung. Es zeigt sich, daß diese Impulse immer mehr und mehr doch mit einem gewissen Verständnis ergriffen werden. Und vielleicht wird gerade für diese Impulse das gut sein, wenn man nicht in voreiliger Weise sie in eine ungeschickte Praxis überzuführen versucht, sondern wenn man dasjenige befolgt, was ich am Anfange unserer Begründung unserer Zeitschrift „Anthroposophie“ ja oft gesagt habe: Dreigliederung kann erst dann wirken, wenn sie in möglichst viele Köpfe hineingegangen ist. Wir haben den Mißerfolg gesehen in der Anwendung der Dreigliederung auf die äußere Lebenspraxis der Menschen, aber sie wird als etwas, was immerhin auf anthroposophischem Boden doch steht, ihren Weg in der Welt machen. Alle Anzeichen zeigen, daß unsere Kraft auf dem anthroposophisch-geistigen Felde da angewendet werden muß.» (15.07.1924, Stuttgart, GA 260a)

Verantwortlichkeiten

Rudolf Steiner beurteilte jedoch nicht nur immer wieder neu, von welcher Seite der Berg bestiegen werden kann, er kam auch dazu, bestimmte «Volksverantwortungen» und Veranlagungen, welche die verschiedenen Völker in Bezug auf die Verwirklichung der Dreigliederung haben, in den Blick zu nehmen. Diese Gesichtspunkte geben weitere Hinweise, wie eine heutige Arbeit an der Dreigliederung aussehen könnte.

Rudolf Steiner wies z.B. im Dezember 1919 auf den Unterschied zwischen der «individuellen Verantwortung» und der «Volksverantwortung» hin. Letztere beurteilte er nach der Niederlage Deutschlands und den Verträgen von Versailles wie folgt:

«Nun kann man fragen: Da das deutsche Volk ausgeschaltet sein wird von dem Miterleben der Dinge, durch welche die äußere Welt in der Zukunft beherrscht sein wird, was geht da eigentlich vor? Es fällt die Verantwortlichkeit – nicht die des Individuums natürlich! –, aber die Volksverantwortlichkeit fällt ja weg, die Verantwortung für die Menschheitsereignisse. Nicht die des Individuums, aber die Volksverantwortlichkeit fällt weg bei denjenigen, die niedergetreten sind, denn das sind sie. Sie können sich auch nicht wieder erheben. Alles das, was gesagt wird nach dieser Richtung, ist Kurzsichtigkeit. Die Verantwortung fällt weg. Um so größer ist die Verantwortung auf der anderen Seite. Dort wird die eigentliche Verantwortung liegen.» (Dornach, 14.12.1919. GA 194)

Diese andere Seite, die nun die «Volksverantwortung» für die «Menschheitsereignisse» trägt, ist nach seiner Beurteilung die anglo-amerikanische Welt. Als Rudolf Steiner diesen Appell der «Volksverantwortung» aussprach, waren Besucher aus England anwesend. Welches die Konsequenzen sind, wenn diese Volksverantwortung nicht ergriffen wird, führte er in Anwesenheit der Besucher aus England weiter wie folgt aus:

«Ein Wirtschaftsleben wie das anglo-amerikanische, das in die Weltherrschaft ausmünden sollte: wenn es sich nicht bequemt, sich durchdringen zu lassen von dem selbständigen Geistesleben und selbständigen Staatsleben, mündet ein in den dritten der Abgründe des Menschenlebens, in den dritten der drei. Der erste Abgrund ist die Lüge, die Entartung der Menschheit durch Ahriman. Der zweite ist die Selbstsucht, die Entartung der Menschheit durch Luzifer. Der dritte ist auf physischem Gebiete Krankheit und Tod, auf Kulturgebieten: Kulturkrankheit; Kulturtod. Die anglo-amerikanische Welt mag die Weltherrschaft erringen: ohne die Dreigliederung wird sie durch diese Weltherrschaft über die Welt den Kulturtod und die Kulturkrankheit ergießen, denn diese sind ebenso eine Gabe des Asuras, wie die Lüge eine Gabe des Ahriman, wie die Selbstsucht eine Gabe des Luzifer ist. So ist das dritte, sich würdig den anderen an die Seite Stellenden, eine Gabe der asurischen Mächte! Man muss aus diesen Dingen den Enthusiasmus nehmen, der einen befeuern soll, nun wirklich zu suchen die Wege, möglichst viele Menschen aufzuklären.» (Dornach, 14.12.1919, GA 194)

Die Verantwortung dafür, dass die Dreigliederung eine Sache wird, welche die «Menschheitsereignisse» bestimmt, liegt nicht mehr in Mitteleuropa, sondern im Westen. Interessant und lehrreich sind diesbezüglich folgende zwei Sachverhalte. Erstens, obwohl Rudolf Steiner im Dezember 1919 diese Feststellung machte, arbeitete er bis im Sommer 1922 in Deutschland und der Schweiz weiter daran, die Idee der Dreigliederung zu verbreiten und zu verwirklichen. Das zeigt deutlich, dass die Arbeit an der Verwirklichung der Dreigliederung auch dort möglich und sinnvoll ist, wo die «Volksverantwortung» für die Menschheitsereignisse nicht (mehr) vorhanden ist. Zweitens ist bemerkenswert, dass Rudolf Steiner, obwohl er am 24. Juli 1922 während des Wirtschaftskurses in Dornach darauf hinwies, dass eine «neue Sprache notwendig» sei, er etwas mehr als einen Monat später in Oxford am 28. August 1922 zu den anwesenden Engländern sagte, die «Kernpunkte der sozialen Frage» sollten nun vor allem im Westen und in Russland gelesen werden:

«Deshalb glaube ich, dass in der Zukunft meine «Kernpunkte» mehr gelesen werden sollten im Westen und in Russland, dass sie in Deutschland heute eigentlich ohne eine Möglichkeit des Wirkens dastehen. Denn im Westen zum Beispiel kann man trotzdem an diesem Buche sehr viel sehen, denn es stellt ohne Utopie einmal hin, wie die drei Glieder eben nebeneinanderstehen und ineinandergreifen sollen. Da ist es für den Westen ganz gleichgültig in Bezug auf den Zeitpunkt, denn auch ist noch viel zu tun in Bezug auf die richtige Gliederung der drei Strömungen, Geistesleben, Wirtschaftsleben, staatlich-rechtliches Leben.» (28.08.1922, Oxford, GA 305)

Dies zeigt deutlich, dass, auch wenn diese Sprache, welche in den «Kernpunkte der sozialen Frage» gesprochen wird, nicht mehr aktuell ist, die darin enthaltenen «Urgedanken», welche die gesunde Gliederung und Zusammenarbeit von Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben sichtbar machen, weiterhin aus diesem Buch herausgeholt werden können. In Bezug auf die Dreigliederung sah Rudolf Steiner gerade im Westen eine besondere Veranlagung, die Denkweise auszubilden, welche für die Gestaltung einer assoziativen Wirtschaft benötigt wird:

«Dann taucht aber im Westen eine Kultur auf, die von einer Seelenverfassung herrührt, wo das Ich absorbiert ist, unter dem Niveau von Denken, Fühlen und Wollen verläuft, wo man von Assoziationen spricht im Vorstellungs-, im Gefühlsleben. Man sollte dieses Denken nur auf das Wirtschaftsleben anwenden! Da ist es am richtigen Platze. Man war vollständig fehlgegangen, als man es anwendete zuerst auf etwas anderes als auf das Wirtschaftsleben. Da ist es gross, da ist es genial, und würde Spencer, würde John Stuart Mill, würde David Hume, würden sie alle dasjenige, was sie auf die Philosophie verschwendet haben, auf Einrichtungen des Wirtschaftslebens verwendet haben, es wäre grossartig geworden.» (17.10.1920, Dornach, GA 200)

Schafft es der Westen, diese Veranlagung richtig zur Anwendung zu bringen und so ein assoziatives Wirtschaftsleben zu verwirklichen, so wären damit auch die Grundlagen für eine neue Verständigung des Ostens mit dem Westen gegeben:

«Indem die Zivilisation weiter nach dem Westen fortschreitet, wird das Gewerbe in der Industrie zum selbständigen Element in der Wirtschaftsbesorgung. Man kann nur fruchtbringend Güter erzeugen, wenn man mit den Menschen, mit denen man in der Erzeugung arbeiten muss, in einer den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechenden Verbindung lebt. Die Entfaltung des industriellen Wesens erfordert aus dem Wirtschaftsleben heraus gestaltete assoziative Verbindungen, in denen die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigt wissen, soweit die Naturverhältnisse das ermöglichen. Das rechte assoziative Leben zu finden, ist die Aufgabe des Westens. Wird er sich ihm gewachsen bezeugen, so wird der Osten sagen: unser Leben verfloss einst in Brüderlichkeit; sie ist im Laufe der Zeit geschwunden; der Fortschritt der Menschheit hat sie uns genommen. Der Westen lässt sie aus dem assoziativen Wirtschaftsleben wieder erblühen. Das hingeschwundene Vertrauen in die wahre Menschlichkeit stellt er wieder her.» (01.06.1922, Wien, GA 83)

Während damit ein Schlaglicht darauf geworfen ist, welches die Möglichkeiten und die Aufgaben des Westens sind, so kann nun doch die Frage auftauchen, ob es auch noch weitere «Verantwortlichkeiten» in Bezug auf die soziale Frage gibt, die nicht dem «anglo-amerikanischen Volk» obliegen. Dazu folgende Überlegungen.

Das Urphänomen der «Dreigliederung des sozialen Organismus» ist eine der schönsten Früchte des mitteleuropäischen Geisteslebens. Die Ausarbeitung der Idee der Dreigliederung hat nicht erst mit Rudolf Steiner begonnen. Zum Beispiel hatte Wilhelm von Humboldt mit seinem Buch «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen» erste Ansätze für ein Rechtsleben im Sinne der Dreigliederung ausgearbeitet. In den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, in welchen die juristisch-dialektische Denkweise überwunden wird, so Rudolf Steiner, zeigen sich Keime für eine freies Geistesleben. Mit der Darstellung der Urgedanken des «sozialen Organismus» hat Rudolf Steiner diese Entwicklung weitergeführt und für die Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit dasjenige geleistet, was Goethe für die Pflanze geleistet hat.

Diese in Mitteleuropa geschaffene Erkenntnis der sozialen Welt braucht es für die Verwirklichung der Dreigliederung. Während der Westen eine Veranlagung für das assoziative Wirtschaftsleben hat, so fehlt ihm jedoch die Veranlagung für das Verständnis der anderen beiden Glieder des sozialen Organismus. Daraus leitet sich auch eine Aufgabe und immense Verantwortung ab, die «Mitteleuropa» nach Rudolf Steiner hat:

«Das wäre eine der furchtbarsten Katastrophen, die die Erde erleben könnte, wenn einmal gegen Mitteleuropa herein der Ruf ergeht – mag dann das Äußere so oder so aussehen –, wenn der Ruf herein ergeht: «Dieses Geistesleben brauchen wir!» und in Europa würde man achtlos an diesem Ruf vorübergehen, weil man es selber nicht schätzen könnte, dieses Mitteleuropäische Geistesleben.» (07.09.1923, Stuttgart, GA 259)

Die Zusammenarbeit der verschiedenen Völker kann aber noch viel umfassender gedacht werden. Im Jahr 1918 schrieb Rudolf Steiner ein Vorwort zu seinem Zyklus «Die Mission der einzelnen Volksseelen», in welchem er folgendes schreibt: «Es ist...von einer ganz besonderen Wichtigkeit..., dass gerade in unserer Zeit in unbefangenster Weise auch gesprochen wird über dasjenige, was wir die Mission der einzelnen Volksseelen der Menschheit nennen ..., weil die nächsten Schicksale der Menschheit in einem viel höheren Grade als das bisher der Fall war, die Menschen zu einer gemeinsamen Menschheitsmission zusammenführen werden». Rudolf Steiner sieht in den verschiedenen Völkern der Welt spezifische Veranlagungen. Für die Schweiz sieht er z.B. die Möglichkeit, ein neues Rechtsleben im Sinne der Dreigliederung zu schaffen, da sich hier das römische Recht an den Bergen gebrochen hat (GA 339). Damit sich die jeweiligen Veranlagungen nicht zu Einseitigkeiten entwickeln, ist es jedoch von zentraler Bedeutung, dass sich international die Menschen finden, die an der Dreigliederung arbeiten und sich so gegenseitig helfen und unterstützen können.

Der für das Zitat im Nachrichtenblatt Nr. 15 gewählte Titel «Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden» nährt hingegen ein fatales Missverständnis, welches leider in den anthroposophischen Zusammenhängen immer wieder anzutreffen ist: Die Dreigliederungsbemühungen sind gescheitert. Wer sich weiterhin damit beschäftigt, ist im Gestern stecken geblieben. Der ganze Satz von Rudolf Steiner jedoch lautete: «Die Dreigliederung war an eine kurze Zeit gebunden, in welcher sie Mitteleuropa hätte retten können».

Diese Zeit ist tatsächlich vorbei und wer dächte, die Dreigliederung zur Rettung von Mitteleuropa vertreten zu können, ist tatsächlich von allen guten Geistern verlassen. Es geht heute aber nicht um die Rettung von Mitteleuropa, sondern um die Rettung der ganzen Menschheit vor dem Bolschewismus und dem Kulturtod. Hierfür ist die Dreigliederung absolut notwendig, denn es gibt – dies wird heute und in Zukunft immer deutlicher sichtbar werden – nur ein Entweder/Oder. An dem Ausgang dieser Entscheidung wirkt heute weltweit jeder Mensch mit, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.

Bei Rudolf Steiner findet sich eine Zeitangabe für die Dreigliederung, die sich deckt mit der Zeitspanne, in welcher Michael der führende Zeitgeist ist (1879 – ca. 2300):

«Und unter den Fragen, die er [ein Amerikaner, Anm. des Autors] stellte und die alle sehr verständig waren, war auch die folgende, die mich besonders freute: Nun, die Dreigliederung, man kann sie für die jetzige Zeit sehr gut einsehen; man kann einsehen, daß jetzt die Dreigliederung notwendig ist, daß sie an die Stelle des alten Einheitsstaates treten muß. Sind Sie der Meinung, daß nun die Dreigliederung die letzte, endgültige Lösung der sozialen Frage ist? – Das war eine sehr verständige Frage. Ich konnte ihm antworten: Das glaube ich ganz und gar nicht. Sondern im Laufe der Geschichtsentwickelung hat sich in den verflossenen Jahrhunderten ergeben, daß mehr der Einheitsstaat heraufkam. Jetzt ist notwendig geworden durch die Zeitforderung die Dreigliederung. Und es wird wiederum eine Zeit kommen, wo die Dreigliederung überwunden werden muß. Aber das ist nicht die jetzige Zeit, das ist die Zeit in drei bis vier Jahrhunderten. Da wird man wiederum denken müssen, wie man die Dreigliederung ablösen kann.» (28.09.1919, Stuttgart, GA 192)

Für diese Aufgabenstellung steht somit der kosmopolitische Zeitgeist Michael helfend zur Seite. Michael ist aber nicht nur der Zeitgeist des Kosmopolitismus, sondern auch der freien Initiative. Wird diese Michaelsaufgabe der «Dreigliederung des sozialen Organismus» weltweit von immer mehr Menschen in freier Initiative ergriffen, so besteht auch noch heute die Möglichkeit, dass anstelle von Krankheit und Kulturtod die Dreigliederung zur Verwirklichung kommen kann.