Anarchismus - Rudolf Steiner und die Betriebsräte

Assoziation: Brüderlichkeit durch Syndikalismus oder durch Betriebsräte?

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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In den beiden vorigen Kapiteln stand die Frage der Freiheit im Mittelpunkt. Es ist herausgekommen, daß es um diese Freiheit bei den Anarchisten gar nicht so schlecht steht. Nun fragt sich, ob dies auch für die Brüderlichkeit gilt.

Statt von Brüderlichkeit spricht Steiner oft von Assoziation. Es klingt etwas nüchterner, und paßt daher gut zu seiner Forderung, nicht ins Lyrische abzugleiten, wenn es um das Wirtschaftsleben geht. Das Wort Assoziation ist aber keine Wortschöpfung von Steiner. Es hat ganz im Gegenteil eine lange Vorgeschichte. Es bleibt aber offen, ob Steiner sich wirklich, sei es nur stillschweigend, darauf bezieht oder dem Ausdruck eine eigene, ganz neue Bedeutung gibt.

Bleibt man zunächst bei der lateinischen Wurzel des Wortes, so heißt Assoziation so viel wie Zusammenschluß. Wer sich zusammenschließt, wird dabei nicht gesagt. Ganz anders sieht es aus, wenn man weiß, daß dieser Begriff durch den französischen Frühsozialismus geprägt worden ist. In diesem Zusammenhang heißt es wirtschaftlicher Zusammenschluß. Ein kultureller oder politischer Verein ist keine Assoziation mehr. Sogar Marx benutzt noch den Ausdruck in diesem Sinne. Mit Marx fängt aber, wie schon erwähnt , eine neue Tradition an, die sich bald vom Frühsozialismus absetzt. Neues Ziel ist der wissenschaftliche Sozialismus. Der Frühsozialismus wird zum utopischen Sozialismus umgetauft, weil er noch an die Einsicht der Menschen appelliert hat. Die Entwicklung zum Sozialismus kann aber nicht vom Menschen kommen, sondern nur von selbst. Sie soll sich aus den Verhältnissen ergeben. Die wirtschaftliche Konkurrenz führt von selbst zur Konzentration des Kapitals in immer weniger Hände. Sie hebt daher selber auf. Den letzten Kapitalisten braucht nur noch der Staat zu enteignen, und schon hat man den Sozialismus, die Vergesellschaftung des Kapitals. Steiner macht darauf aufmerksam, daß sich Marx gerade an dieser Stelle widerspricht. Er will eine rein passive Entwicklung, der Staat muß sich aber aktiv einschalten. Hier ist ein anderer Gesichtspunkt entscheidend: Die Assoziation von Marx ist kein rein wirtschaftlicher Zusammenschluß mehr. Die Assoziation ist der Staat.

Innerhalb des Frühsozialismus hat es auch Stimmen für eine Einbeziehung des Staates in die Assoziation gegeben. Dies wird aber leicht übersehen, weil die Marxisten keinen besonderen Wert darauf legen. Was sie interessiert, ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Utopie und Wissenschaft. Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Der Frühsozialismus enthält in sich zwei Strömungen, die sich später in zwei eigenständige und feindliche Bewegungen abspalten. Die eine Richtung setzt nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf den Staat. Er soll es machen. Dieser Anfang aller Passivität steigert sich zum wissenschaftlichen Sozialismus. Die andere Richtung bleibt beim Menschen, und will vom Staat nichts hören. Daraus wird der Anarchismus. Zu dieser zweiten Richtung muß auch der Syndikalismus gerechnet werden. Er setzt sich für rein wirtschaftliche Assoziationen, für Syndikate ein. Dies nennt er direkte Aktion. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ist der Versuch, über den Umweg des Staates auf die Wirtschaft einzuwirken, eine indirekte Aktion. Und wie bei allen Umwegen ist die Gefahr groß, sein ursprüngliches Ziel zu vergessen. Aus der indirekten Aktion wird gar keine Aktion, aus der Aktivität reine Passivität.

Der Syndikalismus hat wie der Frühsozialismus in Frankreich eine wichtige Rolle gespielt. Beide sind aber heute weitgehend vergessen worden. Wer heute in Frankreich von Assoziation spricht, wird nicht besser verstanden als etwa in Deutschland. Assoziation ist dort inzwischen gleichbedeutend geworden mit Verein, hat also mit Wirtschaft nichts mehr zu tun. Bei deutschen Arbeitern war der Ausdruck schon zur Zeit Steiners fast unbekannt. Steiner verzichtet daher bald darauf, von Assoziation zu sprechen, um lieber das aufzugreifen, womit sich die Arbeiter damals beschäftigt haben, den Betriebsräten. Es zeugt von seinem Pragmatismus. Es fragt sich aber, wo die Anknüpfungspunkte gelegen haben.

Der wichtigste dieser Anknüpfungspunkte wird von Steiner selber erwähnt. Ihn betont er besonders in seinen Vorträgen vor den Arbeitern: Die Betriebsrätebewegung zeigt, daß die politische Revolution die wirtschaftliche Frage offen gelassen hat. Es hätte in Deutschland bei den Arbeiter- und Soldatenräten von November 1918 bleiben können. Stattdessen ist es im Frühling 1919 zu einer zweiten Revolution gekommen, die diesmal auf eine direkte Umwandlung der Wirtschaft gezielt hat. Damit spricht sich die Selbständigkeit der verschiedenen sozialen Fragen von selbst aus. Dieser Aspekt der Betriebsrätebewegung ist von den deutschen Historikern lange verkannt worden. Sie haben entweder Räte so grundsätzlich abgelehnt, daß sie zu einer weiteren Differenzierung nicht mehr bereit waren, oder sie sind so marxistisch geprägt gewesen, daß ihnen die politische Revolution ausgereicht hat. Eine zweite eigenständige wirtschaftliche Revolution hätte ihr Geschichtsbild in Frage gestellt. Das ist es aber gerade, was die damalige Betriebsrätebewegung so interessant macht. Sie will nicht auf irgendwelches Betriebsrätegesetz warten, sondern die Wirtschaft selber gestalten.

Hier enden aber schon die Gemeinsamkeiten zwischen den Betriebsräten und der Assoziation, wie sie von Steiner verstanden worden ist. Das zeigt sich an den Entwürfen der verschiedenen Betriebsrätetheoretiker. Sie gehen von der Annahme aus, daß die Einrichtung von Betriebsräten zu einem verstärkten Betriebsegoismus führen wird. Es müssen also andere Einrichtungen von außen auf die Betriebsräte einwirken, um diesen Egoismus auszugleichen. Was die Entwürfe voneinander unterscheidet ist hier lediglich, wer diesen Ausgleich vornehmen soll. Es gibt dazu zentralistische Varianten, die zum Beispiel auf die Gewerkschaften setzen und dezidiert dezentralistische Varianten, die etwa die lokalen Gemeinden einschalten wollen. Die Gefahr des Betriebsegoismus sieht Steiner auch. Er spricht von einer drohenden Individualisierung der Betriebe. Daran zeigt sich wie unterschiedlich Steiner an das Geistesleben und an das Wirtschaftsleben herangeht. Was im Geistesleben wünschenswert ist, der Individualismus, soll im Wirtschaftsleben vermieden werden. Die Betriebe sollen also auch bei Steiner sozialisiert werden. Das gehört aber für Steiner gerade zu den Aufgaben der Betriebsräte. Sie sollen sich vernetzen, um über den eigenen Tellerrand sehen zu können. Die Sozialisierung soll von innen kommen, und nicht von außen aufgesetzt werden.

Steiner geht noch einen weiteren Schritt über das hinaus, was sonst von den Betriebsräten erwartet worden ist. Die Betriebsräte sollen sich nicht nur untereinander, sondern auch mit Verkehrs- und Konsumräten vernetzen. Ihre Brüderlichkeit würde sonst unvollständig bleiben und sich auf die Produzenten beschränken.

Die Betriebsräte haben sich nicht einmal in dem Punkt durchsetzen können, wo sie im Einklang mit dem Assoziationskonzept Steiners gestanden haben. Von den wilden Betriebsräten, das heißt von den Betriebsräten, die sich ohne gesetzliche Grundlage gebildet haben, gab es schon nach einigen Monaten keine Spur mehr. Was die Vernetzung der Betriebsräte anbelangt, so wurde sie auf Initiative der Gewerkschaften im Betriebsrätegesetz ausdrücklich verboten. Dies ging keineswegs von den Unternehmern aus. Die Gewerkschaften wollten die Betriebsräte schwächen und haben es gerade damit begründet, daß diese zum Betriebsegoismus verleiten können. Zu diesem Betriebsegoismus haben sie die Betriebsräte aber selber geführt, indem sie ihnen die Augen für das Ganze verbunden haben. Das Ganze, die Allgemeinheit, das waren sie, die Gewerkschaften, und nur sie.

Die Übereinstimmung der Assoziation Steiners mit dem Syndikalismus geht noch weiter als die mit den Betriebsräten. Nicht umsonst verspricht sich Steiner anfangs von den Syndikalisten ein besseres Verständnis der sozialen Dreigliederung als von den Marxisten. Der Syndikalismus gilt ihm insofern als gesund, als er scharf zwischen Staat und Wirtschaft unterscheidet. Statt von direkter Aktion zu sprechen, was oft mit Terrorismus verwechselt wird, umschreibt Steiner das Hauptanliegen der Syndikalisten: Sie wollen direkt auf die Wirtschaft wirken, statt auf den Umweg des Staats. Typisch für den Syndikalismus ist aber auch die Bereitschaft, lokal zu arbeiten, die ganze Wirtschaft eines Gebietes zu umfassen. In Frankreich waren die lokalen sogenannten Arbeitsbörsen bis zum Ersten Weltkrieg noch mächtiger als die Gewerkschaften. In Deutschland sind sie weit davon entfernt, aber trotzdem als Lokalisten vorhanden gewesen. Diese Syndikalisten konnten sich andere überbetriebliche Einrichtungen vorstellen als nur die Branchengewerkschaften oder gar den Staat und seine lokale Versionen, die Gemeinden.

Es wäre daher günstig für die Stuttgarter Betriebsräteinitiative von Steiner gewesen, wenn dort der Syndikalismus stark gewesen wäre. Sein Schwerpunkt lag aber damals im Ruhrgebiet. Trotz aller Übereinstimmungen ist es auch Steiner nach eigenen Angaben nicht gelungen, Syndikalisten für die soziale Dreigliederung zu gewinnen. An wen er sich gerichtet hat, erwähnt er nicht. Jedenfalls hält er es für müßig, sich weiter zu fragen, wie der Syndikalismus zur sozialen Dreigliederung steht. Es gibt eine ganz andere Priorität: Die Idee einer sozialen Dreigliederung soll so weit verbreitet werden, daß die Syndikalisten von selbst dazu Stellung beziehen müssen. Sie brauchen dann nicht extra danach gefragt werden. Steiner ist also grundsätzlich gegen einen Vergleich zwischen Syndikalismus und sozialer Dreigliederung, weil es von der Notwendigkeit ablenkt, die soziale Dreigliederung zu verbreiten. Dem ist beizustimmen, wenn es von dieser Verbreitung ablenkt. Es gehört aber zu den minimalen Bedingungen einer solchen Verbreitung, auch die anderen politischen Richtungen zu kennen. Es macht also Sinn, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Man darf sich nur nicht der Illusion hingeben, daß diese anderen politischen Richtungen einem irgendwelche Arbeit abnehmen können. Die Überschneidungen mit dem Syndikalismus mögen noch so zahlreich sein, sobald es darum geht, die soziale Dreigliederung zu verbreiten, dann kann man nur auf sich selbst rechnen. Bündnispolitik bedeutet bei Dreigliederern viel zu oft bloß einen Ersatz für eigene Überzeugungsarbeit.

Obwohl Steiner einen Vergleich zwischen Syndikalismus und sozialer Dreigliederung als Zeichen von Faulheit grundsätzlich ablehnt, geht er auf die Frage eines Teilnehmers näher ein und liefert einige Elemente zu einem solchen Vergleich. Das positive Element der direkten Aktion ist schon erwähnt worden. Anschliessend kommt aber die Verurteilung, der Syndikalismus sei alt und überholt. Es fragt sich natürlich, was daran alt sein könnte. Darüber spricht sich Steiner aber nicht aus. Eine Antwort darauf ist desto schwieriger, als Steiner in seiner weiteren Beschreibung des Syndikalismus unscharf wird. Er spricht plötzlich von Berufsverbänden, das trifft aber nur auf die üblichen deutschen Gewerkschaften zu: Syndikalisten und Lokalisten haben sich dagegen berufsübergreifend organisiert. Solche Berufsverbände gehören in den Augen von Steiner nicht zum Wirtschafts- sondern zum Geistesleben. Bei Berufsverbänden sollte es, anders als bei der Assoziation, darum gehen, ähnliche Welterfahrungen zusammenzubringen, was schnell einen moralischen Einschlag mit sich bringt. Dies zählt zu den sehr interessanten Aussagen aus der Dreigliederungszeit, wo Steiner das Geistesleben wieder mit Gleichheit statt mit Freiheit zusammenbringt. Es soll sich Gleiches mit Gleichem zusammentun. Die Assoziation führt dagegen solche Welterfahrungen zusammen, die sich ergänzen. Daraus ergibt sich keine Moralinsäure, sondern ein assoziatives Urteil, also die schon erwähnte unlyrische Brüderlichkeit. Den Berufsverbänden und damit den Gewerkschaften könnte man also vorwerfen, sie würden sich selbst völlig verkennen. Ihre geistige Veranlagung würden sie in wirtschaftlichen Aktivitäten verpulvern. Die Syndikalisten haben diese Veranlagung aber nicht und daher auch nichts zu verpulvern. Will man herauskriegen, was am Syndikalismus alt sein könnte, dann muß man sich selber mit ihm beschäftigen.

Bezeichnend für den französischen Syndikalismus ist die Einstellung von Pelloutier, der die Föderation der Arbeitsbörsen geleitet hat. In einem Artikel versucht er selber dessen Nähe zum Anarchismus klarzumachen. Was er dabei betont, ist die Abwesenheit von Hierarchie, die Freiheit, die den Mitgliedern gelassen wird. Daher auch die Bezeichnung Anarchosyndikalismus. Zu dieser Freiheit gibt es aber eine Ausnahme.

" So sind also einerseits die "Gewerkschaftsmitglieder" [Sylvain Coiplet: die Syndikalisten] heute in der Lage, die anarchistischen Theorien zu hören, zu studieren und zu übernehmen, während andererseits die Anarchisten nicht zu befürchten brauchen, daß sie dadurch, daß sie sich einer korporativen Bewegung anschließen, ihre Unabhängigkeit aufgeben müssen. Die ersteren sind bereit, die letzteren zu akzeptieren, und diese können eine Organisation weiter ausbauen, deren Entscheidungen durch freie Zustimmung getroffen werden und die nach den Worten von Grave "weder Gesetze noch Statuten, noch eine Satzung hat, denen sich jeder einzelne beugen müßte, da ihm sonst irgendeine zuvor festgesetzte Strafe droht", in der alle die Möglichkeit haben, jederzeit wieder auszutreten, außer - das wiederhole ich - wenn der Kampf gegen den Feind begonnen hat; es handelt sich hier also, kurz gesagt, um eine praktische Schule des Anarchismus."

Sobald es also darum geht, den Feind, das heißt die Arbeitgeber, durch den Streik oder am besten durch den Generalstreik zu bekämpfen, dann wird mit aller Härte durchgegriffen. Der marxistische Klassenkampf fordert eben seine Opfer. Seine Ablehnung des Streiks hat Steiner dagegen auch vor Arbeitern offen ausgesprochen. Er sei die Fortführung der Mittel der Politik ins Wirtschaftsleben. An Pelloutier zeigt sich, wie gerade an diesem Punkt der Anarchismus in Militarismus umschlägt. Nicht umsonst haben viele Anarchisten ihre Bedenken bezüglich des Syndikalismus damit begründet, daß dieser am Klassenkampf festhält. Der Anarchismus bleibt dann etwas unter Arbeitern, anstatt sich auf die ganze Menschheit zu beziehen. Steiner hält sich auch nicht an das Prinzip des Klassenkampfes und ruft die Betriebsräte dazu auf, so viele Betriebsleiter einzubeziehen wie nur möglich. Diese dürfen und müssen bleiben, wenn sie nur das Vertrauen der Arbeiter haben. Sie werden gebraucht, damit die Kontinuität des Wirtschaftslebens gesichert werden kann.

Hinter dieser Forderung von Steiner steckt seine Auffassung des Kapitals, die sich von der marxistischen grundsätzlich unterscheidet. Steiner betont die organisierende Rolle des Kapitals im Wirtschaftsleben. Was dem Kapital Wert gibt, ist nicht schon die hineinkristallisierte Arbeit. Es braucht nämlich dieses Kapital nur von jemandem verwaltet zu werden, der dazu unfähig ist, und schon ist die ganze Arbeit verpulvert. Sie ist einfach wertlos. In diesem Fall müssen die Arbeiter in der Tat Mehrarbeit leisten, um solche Versager mitzuversorgen. Hier kann von einem Mehrwert gesprochen werden, der vom Kapitalisten eingeheimst wird. Mit dem Vertrauen der Arbeiter wird er ganz sicher nicht rechnen können, weil dazu jede objektive Grundlage fehlt. Ist aber der Kapitalist seiner Aufgabe gewachsen, so kehrt sich die Lage um. Durch den Einsatz von Kapital kann er den Arbeitern so viel Arbeit ersparen, daß sie es nicht nötig haben, zusätzlich für ihn zu arbeiten. Er lebt dann nicht vom Mehrwert, sondern von diesem Weniger an Arbeit, von einem Minuswert. Dasselbe gilt im Grunde genommen für alle geistige Arbeiter. Bei ihnen gibt es immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder leben sie von der Arbeit, die sie den anderen Arbeitern ersparen, oder sie sind falsch am Platz.

Die Syndikalisten nehmen es mit den Kapitalisten nicht so genau. Diese leben nicht nur alle vom Mehrwert, sondern können einfach gar nicht anders. Sie gehören daher abgeschafft. Diese Einseitigkeit des Syndikalismus kann man zwar durch den Einfluß des Marxismus erklären. Das braucht man aber nicht. Es gibt nämlich innerhalb des Anarchismus genug Anlaß zu einer solchen Haltung. Die Mehrwerttheorie findet sich nicht nur bei Marx, sondern auch bei Proudhon. Hier spielt es keine Rolle, wer von beiden der eigentliche Erfinder dieser Theorie sei. Entscheidend ist, daß es bei diesen beiden Mehrwerttheorien auf dasselbe hinauskommt: Der Kapitalist ist nicht nur überflüssig, sondern ein Parasit der Arbeit.

Proudhon macht es an einem Beispiel anschaulich . Ist ein Balken zu schwer für einen Arbeiter, so bedarf es mehrerer. Diese Arbeiter könnten aber einzeln diesen Balken auch nicht bewegen. Sie können es nur zusammen. Mehrere Arbeiter sind daher mehr als die Summe der einzelnen Arbeiter. Aus diesem Mehr entsteht der Mehrwert, der eigentlich den Arbeitern zukommen sollte aber vom Kapitalisten eingesteckt wird. Er beraubt sie um die Frucht ihrer gemeinsamen Arbeit. Hier hilft nur der gemeinsame Kampf.

Hier ist also ausreichend theoretischer Stoff für einen ordentlichen Klassenkampf. Für eine ordentliche Erkenntnis des Wirtschaftslebens reicht es dagegen nicht aus. Ihr kommt man schon näher, wenn man das Beispiel von Proudhon aufgreift und ergänzt. Nehmen wir an, es seien bisher mehrere Arbeiter notwendig gewesen, um den Balken wegzutragen. Nun kommt ein schlauer Kopf und richtet das Ganze so ein, daß es von einem einzelnen Menschen bewältigt werden kann. Hier greift die Erklärung von Proudhon nicht mehr, sondern nur noch die von Steiner. Der schlaue Kopf mag ein Kapitalist sein, die Arbeiter hat er nur um die Verschwendung ihrer gemeinsamen Arbeit beraubt. Der Ansatz von Steiner läßt sich sogar nicht nur auf dieses neue Beispiel, sondern auch auf das Beispiel von Proudhon anwenden. Angenommen, der Kapitalist ist noch nicht so weit und braucht zum Balkentragen mehrere Arbeiter. Er wird dann wenigstens dafür zu sorgen haben, daß diese Arbeiter zum rechten Zeitpunkt zusammenkommen, damit nicht ein einzelner Arbeiter seine einsame Arbeit verschwenden muß.

Es geht nicht darum, ein Loblied auf den Kapitalismus zu singen. Die heutigen Kapitalisten geben dazu wahrlich keinen Anlaß. Es soll nur auf einen Aspekt der sozialen Dreigliederung hingewiesen werden, der für jeden Syndikalisten ein Grund zum Davonlaufen ist. Es wird nämlich von ihm verlangt, mit dem Feind zu paktieren. Steiner begründet es damit, daß das Kapital eigentlich kein Problem, sondern ein Segen darstellt, wenn er nur bei denen bleibt, die wirklich fähig sind, ihn zu verwalten. Dies ist aber nur möglich, wenn dieses Kapital nicht mehr käuflich ist, sondern gezielt denen geschenkt wird, welche die entsprechenden Fähigkeiten haben. Das Kapital darf also nicht zur Ware gemacht werden. Es gehört nicht zum Wirtschaftsleben, sondern zum Geistesleben. Diese neue Zuordnung des Kapitals zählt Steiner zu den Kernpunkten der sozialen Frage. Wird danach gehandelt, so gibt es bald keinen Mehrwert mehr, sondern nur noch den Wert der geistigen Arbeit, den Minuswert. Zu einer solchen Aufwertung des Geistes sind die Syndikalisten nicht bereit gewesen.

Sie wären wahrscheinlich auch nicht bereit gewesen, alle drei Arten von Räten einzuführen, die bei Steiner zu einer vollständigen wirtschaftlichen Brüderlichkeit gehören. Die Betriebsräte sind für die Syndikalisten natürlich kein Problem gewesen, wenn auch nicht alle Produzenten einbezogen wurden. Kapitalisten halten sie eben nicht für produktiv. Für die Konsumräte wären die Syndikalisten vielleicht noch zu gewinnen gewesen. Der Boden war hier durch Kropotkin und seine Betonung des Konsums gut vorbereitet. Anders sieht es bei den Verkehrsräten aus. Proudhon hat sich nämlich immer wieder für einen direkten Kontakt zwischen Produzenten und Konsumenten eingesetzt und versucht den Handel, insbesondere die Banken, möglichst umzugehen. Die Händler gelten ihm als Parasiten der Arbeit, welche die Produkte unnötig verteuern. Also keine besonders gute Voraussetzung um etwas mit der Auffassung Steiners anfangen zu können, wonach der Handel grundsätzlich verbilligend wirkt. Eine Einsicht, die nicht nur einem Anarchisten wie Proudhon schwerfällt, sondern auch vielen Anthroposophen. Was sie unter Assoziation verstehen, ist nämlich oft nicht viel mehr als eine Direktvermarktung ihrer Landwirtschaftsprodukte bei Ausschaltung des Zwischenhandels.

Sylvain Coiplet