Die revolutionäre Urzelle

01.09.2011

Leistungsgesellschaft statt Kapitalismus

Als Karstadt-Eigentümer ließ sich Thomas Middelhoff Millionen auszahlen - auf Kosten der in dem Unternehmen arbeitenden Menschen, deren Gehälter er mit Entlassungsdrohungen bis auf 1100 Euro brutto drückte. Das war ihm offenbar nicht genug. Middelhoff verkaufte die Karstadt-Häuser an einen Immobilienfonds, an dem er selbst beteiligt war. Dann ließ er Karstadt die eigenen Immobilien zu einem Preis zurückmieten, der das Traditionsunternehmen nach 128 Jahren seines Bestehens in die Insolvenz trieb. Gegenwärtig wird die Muttergesellschaft in ihre Einzelteile zerlegt und gewinnbringend weiterverkauft. Darunter befindet sich auch Hessnatur, ein Pionier auf dem Gebiet ökologischer und fair gehandelter Textilien. Einige Arbeiter von Hessnatur, aber auch Konsumenten und Mitglieder sozialer Netzwerke, wollen an dieser Stelle jetzt endlich einen Punkt machen. Sie haben eine Genossenschaft gegründet, um Hessnatur auch rechtlich wieder denjenigen zuzuordnen, die es faktisch schon die ganze Zeit besitzen: den arbeitenden Menschen.

Anders kann es in einer Demokratie auch nicht sein. Denn das Rechtsgefühl der Mehrheit wird stets bei demjenigen sein, der durch seine fähige Arbeit real mit der betreffenden Sache verbunden ist und diese im Interesse des Allgemeinwohls zu nutzen weiß. Aber was hat Middelhoff mit Karstadt zu tun? Was hat der jetzige „Eigentümer“ von Hessnatur mit ökologischen und fair gehandelten Kleidern zu tun? Gegenwärtig schützt die Staatsgewalt nicht den tatsächlichen Verwalter des Kapitals vor dem Zugriff dritter, sondern umgekehrt: Im Namen eines bloß theoretischen Eigentums schützt sie den Zugriff dritter gegen das Interesse der realen Kapitalbesitzer, gegen das Wohl aller und gegen das Rechtsgefühl der Mehrheit. Am Beispiel von Hessnatur: Die tatsächlichen Verwalter von Hessnatur sind bereit, ihrem jetzigen Eigentümer das Recht am eigenen Arbeitsplatz für 21 Millionen Euro abzukaufen. Der Eigentümer sagt jedoch: Das ist nicht genug, es müssen mindestens 33 Millionen sein! Man kann deshalb zwar mit einigem Recht von einem real existierenden Sozialismus sprechen, aber nicht von einem real existierenden Kapitalismus im Sinne einer Verwaltung des Kapitals durch das Individuum.

Deshalb leben wir auch nicht in einer Leistungsgesellschaft. Denn eine Leistungsgesellschaft wäre diejenige Gesellschaft, in der Leistung nur für Leistung zu haben ist. Heute muss Leistung aber dafür hergeschenkt werden, dass ein anderer die staatliche Gewalt auf seiner Seite hat. Solange dieser anti-wirtschaftliche Vorgang überhaupt möglich ist, solange Leistung nicht nur gegen Leistung getauscht werden kann, sondern für das Rechthaben hergeschenkt werden muss, wird es keine „Rettung" aus der internationalen Banken- und Finanzkrise geben. Denn die Krise beruht auf dem Scheinwert, der überall da entsteht, wo Eigentum und realer Besitz auseinander klaffen, weil der Staat nicht den realen Besitz, sondern ein "Genussrecht" dritter schützt. Auf das Anwachsen dieses Genussrechts, und damit auf ein verstärktes Vorgehen des Staates gegen das demokratische Recht, beruht alle Spekulation. In Deutschland bedeutet das: die Menschen, die vom Eigentümer ihres Arbeitsplatzes abhängig gemacht werden, müssen für diesen länger arbeiten, dürfen weniger konsumieren, gehen später in Rente. Für über 900 Millionen andere, die zum Beispiel in Kenia für ihre deutschen Eigentümer arbeiten, bedeutet es Hunger.

Wo Leistung gegen Leistung getauscht wird, herrscht Gerechtigkeit. Das lässt sich jedoch niemals durch eine Automatismus bewirken, sei es von Seiten eines Gesetzes oder eines vermeintlichen Marktmechanismus, sondern erfordert ein permanent-aktives Erfassen der drei Faktoren der Wertbildung, also der Produktionsbedingungen, der Preisentwicklungen im Handel und der Bedürfnisse der Konsumenten. Eine Leistungsgesellschaft wird deshalb über Produktions- und Konsumentenvertretungen ein gegenseitiges Wahrnehmen ermöglichen, und das Verhältnis von Produktion und Konsum in Verträgen verbindlich regeln. Der Terminkontrakt, der heute die Produktion gegen die Interessen der Konsumenten an einen Spekulanten bindet, wird dann unmittelbar zwischen Konsument und Produzent geschlossen. Dazu muss aber neben die Leistungsgesellschaft ein echter Privatbesitz treten, ein staatlicher Schutz für denjenigen, der die Sache tatsächlich nutzt an Stelle des heutigen Schutzes für einen bloß theoretischen Eigentümer. Dieser echte Privatbesitz wird selbst nicht innerhalb der Leistungsgesellschaft verhandelt werden können, denn er ist keine Ware, sondern ein Recht. Die Verteilung der Waren wird durch bewusste Vereinbarungen über Leistung und Gegenleistung solidarisch geregelt, das Recht als solches, zum Beispiel das Recht am eigenen Arbeitsplatz, darf dagegen niemals Gegenstand irgendeines Handels werden. Denn das Recht ist nur Recht, wenn es unmittelbar gesetzt ist durch das Rechtsgefühl der Mehrheit.

Staatlich verordneter Utopismus

Die Dinge liegen in Wirklichkeit ganz anders, als uns die Begriffe glauben machen, mit denen wir sie auffassen wollen. Was meint etwa ein Guido Westerwelle, wenn er „Leistungsgesellschaft“ sagt? Was ist der reale Inhalt des Wortes „Eigentum“? Schon die Begriffe, unter denen wir das soziale Leben anschauen, sind gelogen. Und wir kommen niemals heran an die sozialen Prozesse, solange wir sie durch die Brille der gelogenen Begriffe anschauen. Auch wenn wir uns bloß reflexartig auf das vermeintliche Gegenteil berufen, verstricken wir uns nur tiefer in die Lüge. Die Wahrheit ist nämlich nicht einfach das Gegenteil dessen, über das zum Beispiel der Begriff „Leistungsgesellschaft“ lügt, also etwa „Schenkungsgesellschaft“. Was hat „schenken“ nämlich noch für einen Sinn, wenn man unter „leisten“ das akzeptiert, was Guido Westerwelle damit meint? Der bloße Reflex wird uns nicht weiterbringen. Wir müssen vielmehr die besetzte Sprache zurückerobern und den Worten ihren positiven Sinn zurückgeben.

Die Herrschaft herrscht durch ihre Begriffe. Wir dürfen deshalb nicht länger mit den Begriffen der Herrschaft wirtschaften. Die Tragik der sozialen Bewegungen von heute ist, dass sie über das soziale Leben glaubt nachdenken zu können, ohne die Begriffsbildung bewusst zu ergreifen. „Subsistenzwirtschaft“ heisst dann zum Beispiel das Zauberwort, weil man mit so einer Phrase auch in den staatlichen Bildungseinrichtungen bestehen kann. Man beobachtet zuerst, wie die westlichen Staaten die Menschen im Süden oder Osten zu Bodenarbeitern machen für den Export in den Westen. Und reflexartig folgert man: die Bauern dürfen nicht für den Weltmarkt produzieren, die sollen für sich selber produzieren, sollen das Erzeugnis ihrer Arbeit selber aufessen! Man negiert also bloß den Markt. Damit bestätigt man aber den Marktbegriff der Herrschenden und sieht nicht, dass ein wirklicher Weltmarkt ja gerade fehlt: Der Westen kauft den Bauern der dritten Welt nicht die Waren ab, sondern er kauft ihren Staat, und erwirbt damit zunächst die Macht, den Preis der Waren zu drücken. In Kenia etwa hat der deutsche Staat für Rechtsverhältnisse gesorgt, die es deutschen Investoren ermöglicht, Kenianer für unter einen Euro Tagesgehalt zum Anbau von Blumen und Energiepflanzen für Deutschland zu zwingen. Die kenianischen Bauern erhalten von den Deutschen für ihre Waren also nicht das, was sie tatsächlich verlangen. Insofern verschenken sie ihre Waren, anstatt sie auf dem Weltmarkt zu verkaufen! Das ist aber überall derselbe Vorgang, ob in Kenia, Ghana, Mexiko oder auf den Philippinen: Deutsche, Saudis oder Amerikaner bezahlen für die Waren, die sie aus diesen Ländern beziehen, nicht das, was diese Waren gemessen an den Bedürfnissen ihrer Erzeuger tatsächlich kosten, weil die westliche Militärmacht in diesen Ländern das demokratische Recht auf einen Schein-Markt zwingt und damit außer Kraft setzt. Das Problem ist also nicht der Weltmarkt, sondern die Tatsache, dass dieser Weltmarkt von den „demokratischen“ Staaten manipuliert wird.

Wir wurden in den Erziehungsanstalten des Staates erzogen. Unser Denken ist darin genau so abstrakt geworden gegenüber der Wirklichkeit, wie das staatlich protegierte Eigentum heute abstrakt ist gegenüber dem realen Besitz. Wir lieben deshalb unser utopisches Denken mehr als die Wirklichkeit. Und so hören wir auch den Bauern Afrikas und Südamerikas, denen wir angeblich helfen wollen, nicht zu. Die sagen nämlich: wir wollen nicht mehr von der Hand in den Mund leben, sondern wir wollen Technologie, wir wollen Produktionsmittel, aber wir wollen das Kapital selber besitzen, damit wir Leistung gegen Leistung tauschen können, statt unsere Leistung für das Recht der Europäer herzuschenken! Die Bauern dieser Welt wollen nicht der Bauernromantik Europäischer Sozialutopisten zu Liebe in die Steinzeit zurückgeschickt werden. Sie wollen vielmehr umgekehrt teilhaben dürfen an der arbeitsteiligen Weltwirtschaft, sie wollen von der Welt endlich etwas bekommen für ihre Ware. Aber offenbar weiß heute jeder, was das Beste für die Bauern ist, nur nicht die Bauern selber.

Diese Neigung zum nicht Hinhören auf die Forderungen der Menschen, zum Überstülpen des eigenen Lieblingsgedankens über das soziale Leben vereint die neoliberalen Theoretiker mit ihren Kritikern. Sie ist aber der wahre Ursprung der sozialen Not. Denn Sozialismus kann in einer Zeit, in der jeder Mensch das eigene Leben selbst bestimmen will, nur heissen, diejenigen Einrichtungen zu schaffen, durch die jeder Mensch das eigene Leben auch selbst bestimmen kann. Niemals darf das Denken utopisch werden, niemals darf ein Mensch sich das beste System für den anderen ausdenken wollen. Es gilt vielmehr, in der Praxis zu bewirken, dass immer mehr jeder einzelne Mensch die soziale Frage tatsächlich selbst und auf die eigene Weise beantworten kann. Das ist aber eben nicht möglich, solange Rechte im Warenkreislauf mit zirkulieren. Wer nämlich ein Recht kauft, bringt notwendig andere Menschen in Abhängigkeit von sich. Den Ausspruch eines solchen notwendigen Zusammenhangs wird nur derjenige wiederum für eine Utopie nehmen, der nirgendwo im Leben das Wirkliche, sondern seinerseits nur Utopisches anerkennen kann.

Den Spieß umdrehen

Das Durcheinanderwerfen von Recht und Ware im Glauben an das Märchen vom Ausbeuter, der dann aus Versehen Wohlstand für alle schafft, ist die Utopie der sozialen Marktwirtschaft. Das Hinarbeiten auf eine selbständige Verwaltung der Warenzirkulation einerseits und eine selbständige Verwaltung des Rechts andererseits ist die praktische Antwort auf diese Utopie. Denn in dem Maß, in dem das Recht auch auf einem rechtlichen Boden steht und im Wirtschaftskreislauf ausschließlich Waren zirkulieren, werden die Arbeiter von Hessnatur, die Bauern der dritten Welt wie auch die Konsumenten in Europa ihre Lebenszeit nicht mehr einer Utopie opfern müssen, sondern ihre rechtlichen und wirtschaftlichen Belange selbst bestimmen können.

Der Handel mit der im Recht verbürgten Gewalt, die Ablösung der Gewalt vom Rechtsgefühl, die Manipulation des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung, das alles stürzt das soziale Leben ins Chaos. Das Chaos erzieht dann aber den Menschen. Wenn er seine Arbeitskraft verkauft, Miete zahlt, auf die Zukunft spekuliert, wird die Gedankenbildung des Menschen in diesen Verhältnissen ebenso wirr wie jene. Und deswegen kommt er nicht heraus aus dem Chaos. Wie soll er nämlich der sozialen Not begegnen, wenn sein Denken nur der geistige Abdruck der Not ist? Das Individuum muss sich in seinem Denken selbst ermächtigen, muss der im eigenen Innern von Außen angeregten Gedankenbildung selbstbewusst entgegentreten und die Herrschaft über das eigene Denken zurückerobern, wenn dieses Denken mehr sein soll als das bloß ins Geistige hinein fortgesetzte äußere Leben. Im Denken hat der Mensch ein Element gegeben, das sich zunächst wesentlich von allem Wirklichen unterscheidet. Dieses Element muss der Mensch auch als solches ergreifen, wenn er damit die Wirklichkeit begreifen und umgestalten will.

Gegenwärtig wird das Denken vom Staat verwaltet. Der Schüler braucht ein Recht, um in der Gesellschaft leben zu dürfen, und dieses Recht muss er von seinem Lehrer erbeten. Der Lehrer hat nämlich die Staatsgewalt auf seiner Seite, und kann den Schüler deshalb belohnen und bestrafen. Was der Schüler dann in der Klassenarbeit behauptet, ist nicht dem eigenen Denken geschuldet, sondern dem Wunsch, vorwärts zu kommen. Hinter dem Lehrer steht wieder der Kultusminister. Und so findet der Mensch gegenwärtig auf jedem Gebiet des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens eine Instanz über sich, die definiert, wann er sich welche Fähigkeit zuschreiben darf, was er denken oder wenigstens zu denken vorgeben muss, um in dem jeweiligen Gebiet tätig werden zu dürfen.

Wenn er nur irgendwie mit seinem Denken herankommen will an die Wirklichkeit, muss der Mensch alles, das unmittelbar vom Urteil des Individuums abhängt, auch durch dieses Individuums verwaltet sein lassen. Weder ein rechtlicher noch ein wirtschaftlicher Prozess werden irgendeinen Einfluss auf die Art haben dürfen, wie sich ein Mensch denkend zur Welt stellt. Dann können Beziehungen entstehen, die allein auf dem freien Urteil beruhen, das der eine Mensch dem anderen entgegenbringt. Und dieses freie Verständnis wird selbst das maßgebliche Organisationsmittel sein. Recht und Verordnung werden nicht mehr die Möglichkeit haben, zwei Menschen zusammen zu zwingen, sondern der eine Mensch wird Schüler des anderen sein, sofern das notwendige Verständnis beide zusammenführt.

Das freie Geistesleben

Der Mensch stellt seine Erfindungsgabe am liebsten dann unter Beweis, wenn es darum geht, Einwände gegen die Freiheit zu finden. Sämtliche Einwände kann er aber auch selbst widerlegen, wenn er nur den guten Willen dazu hat. Sie widersprechen nämlich der Natur des menschlichen Geistes. Hier sei nur einer der möglichen Einwände herausgegriffen: Die Einheit des Bildungswesens ginge verloren, wenn jeder Lehrer, ja wenn auch jeder Schüler vollkommen frei nur der Notwendigkeit des eigenen Denkens zu folgen habe. Dieser Einwand ist aber doch nur möglich, wenn zugleich behauptet wird, dass jeder Mensch eine andere Wirklichkeit vorfände, wo jeder der Notwendigkeit seines eigenen Denkens folgt. Selbstverständlich wird in einem freien Geistesleben der Mensch auch die Freiheit haben, das Weltbild des Subjektivismus zu vertreten. Nur ist es gerade aus einem solchen Weltbild heraus nicht einzusehen, woher dieser dann den Lehrplan für andere Menschen nehmen will.

In einem freien Geistesleben wird es nur ein Mittel zur Einheit geben: die Einsicht in den objektiven Gehalt der Welt. Denn nur der objektive Gehalt der Welt selber kann im Geistes- und Kulturleben sozialisieren. Für einen wissenschaftlich empfindenden Geist versteht sich das von selbst. Er kann niemals einsehen, wieso eine Norm helfen soll, wo die Wahrheit nicht von freien Geistern zugegeben werden kann. Nur weil der Mensch heute in seinem tiefsten Innern gar nicht mehr an die Kraft seines Denkens glaubt, weil er eigentlich zutiefst anti-wissenschaftlich denkt, versucht er mit Gewalt eine künstliche Einheit zu erzwingen.

Die staatlich verwaltete Bildung ist nichts anderes als dieser zur Einrichtung erstarrte Einwand gegen die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Die soziale Not der Gegenwart offenbart die Unmöglichkeit dieses Einwands. Erst wenn nicht mehr ein staatlich verliehener Professorentitel den Studenten zum Glauben an die Richtigkeit eines Gedankens drängt, sondern umgekehrt die Einsicht des Studenten in die Richtigkeit die Fähigkeit eines anderen Menschen diesen zu einem „Professor“ für jenen werden lässt, wenn sich also alle Autoritätsverhältnisse bloß aus dem lebendigen Zusammenwirken freier Geister ableiten, und nicht der Staat, sondern der Bildungsfortschritt selber definiert, was ein Lehrer oder Oberlehrer ist, kann das Denken den Utopismus überwinden und sich wieder an der Wirklichkeit orientieren. So wird sich neben das selbstverwaltete Wirtschaftsleben und das selbstverwaltete Rechtsleben als drittes das selbstverwaltete Kultur- und Geistesleben stellen. Und je weniger das Denken dann von der Peripherie her gezogen wird, je mehr es von seinem Zentrum aus sein eigenes Licht verbreitet, desto weniger wird umgekehrt die Gesellschaft von einem Zentrum beherrscht, desto mehr wird sie gerade von der Peripherie her, nämlich von jedem einzelnen denkenden Individuum bestimmt.

Soziale Technik

Die Praxis der Selbstbestimmung kann das Geschwätz vom „Politischen“ ablösen; und an die Stelle der Ständegesellschaft einen dreigliedrigen sozialen Organismus setzen, in dem jeder Mensch seine wirtschaftlichen Belange in einer solidarischen Wirtschaftsverwaltung nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten, seine rechtlichen in einer demokratischen Rechtsverwaltung nach rein rechtlichen Gesichtspunkten, und seine Bildung in einem freien Bildungswesen nach rein individuellen Gesichtspunkten verwaltet. Alle Einwände, mit der die Bewegung für eine solche soziale Dreigliederung heute noch zu kämpfen hat, beruhen darauf, dass man aufgrund des staatlich geförderten Utopismus nicht zugeben kann, dass Ware, Recht und Bildung faktisch auf drei verschiedenen Prozessen beruhen, und daher auch nur von drei Seiten her angefasst werden können. Indem sie diese drei Prozesse zu ihrem Inhalt macht, und in ihrem theoretischen Teil nach praktischen Wegen sucht, die drei Prozesse anzupacken, ist die soziale Dreigliederung kein Denken über das soziale Leben, sondern der Begriff dieses sozialen Lebens selbst. Im Gegensatz zu Neoliberalismus oder Sozialismus stülpt er einer menschlichen Gemeinschaft nicht einen theoretischen Inhalt über, sondern bewegt nur das eigene Denken gegen die anerzogenen Begriffsmumien, um dort Platz zu schaffen für ein restloses Durchschauen der menschlichen Gemeinschaft.

Eben weil die drei Glieder nicht ausgedacht, sondern real vorhanden sind, ist es nicht möglich, irgendetwas im sozialen Leben ohne eine Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten des dreigliedrigen sozialen Organismus zu bewegen. Die sozialen Bewegungen der Gegenwart sind der Beweis dafür. Ihr ehrlicher soziale Wille bringt die Menschen zunächst zusammen. Dann parlamentieren sie. Am Schluss stimmen sie ab, und tragen das Abstimmungsergebnis zu ihrem Bürgermeister. Und so reproduzieren die sozialen Bewegungen gegenwärtig das System überall da, wo sie sich zu befreien glauben, selbst in dem seltenen Fall, da sich ihr Sozialismus nicht darin erschöpft, mit einer Forderung zum Staat zu laufen: Den Volksvertreter lehnen sie dann zwar ab, aber an das Urteil ihres selbst gewählten Vereinsvorstandes halten sie sich doch gerne.

Das Politische ist nicht der Anfang, sondern das Endprodukt des sozialen Lebens. Es entsteht überall dort, wo die drei dem sozialen Leben zu Grunde liegenden Prozesse von ihrem unbewussten Anfang her durcheinander geworfen werden. Dass die Regierungen Deutschlands und Frankreichs jetzt zusammen eine „Wirtschaftsregierung“ bilden wollen, wird deshalb nicht helfen. Denn als Regierungen stehen sie eben an einem Punkt des sozialen Lebens, von dem aus der Wirtschaftsprozess unerreichbar ist. Die Menschen müssen das soziale Leben in seinem Ursprung ergreifen, wenn sie etwas anderes bewirken wollen als das Chaos aus Recht, Ware und Bildung. Und dieser Ursprung ist ein dreifacher, denn auf drei verschiedene Arten treten die Menschen zueinander in Beziehung: Sie tauschen Leistung und Gegenleistung, sie wenden Gewalt an, wo ihr Rechtsgefühl sie zwingt, und sie bilden sich selbst, indem sie den Gedanken des anderen verständnisvoll nachbilden. Diese drei Prozesse bewirken zusammen die Einheit der Gesellschaft. Ob die Gesellschaft auch diejenige Einheit ist, in der jeder Mensch als ein ganzer Mensch leben kann, hängt davon ab, ob auch jeder Mensch daran mitwirkt, die drei Prozesse in der besten Art zusammenzuführen.

Wo anfangen?

Nicht dem Phantasma der Nation entspringt die Einheit der Gesellschaft, sondern aus drei zwischenmenschlichen Prozessen: aus dem Leisten und Gegenleisten, aus dem Rechtsgefühl, und aus dem Verständnis für den jeweils anderen. Wenn die Einheit eine menschenwürdige werden soll, müssen wir sie deshalb nicht bei einer utopischen Zentralmacht, sondern in ihrem realen Ursprung ergreifen, und also an drei Punkten zugleich ansetzen. Ungeachtet aller theoretischen Einwände beginnen deshalb heute überall in der Welt Menschen damit, ihre wirtschaftlichen Beziehungen solidarisch zu gestalten, das Recht auf einen demokratischen Boden zu stellen, und in freien Bildungszusammenhängen ihre geistige Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen.

Wenn jeder Mensch dem sozialen Leben sein Gepräge geben will, muss auch jeder Mensch zugleich auf alle drei Glieder gestaltend einwirken. Wie aber ergreift er die Glieder des sozialen Lebens? Er sucht etwa das Geistesleben durch Gründung einer „demokratischen“ Schule zu fassen. Damit entgleitet ihm der Bildungsprozess aber gerade. Denn was zwischen Schüler und Lehrer in dem Augenblick geschieht, da von einem Bildungsfortschritt gesprochen werden darf, hat keinen Berührungspunkt mit einem wie auch immer gefassten Beschluss. Die Organisation des Bildungswesens wird, wenn sie dem Zugriff des menschlichen Gestaltungswillens unterworfen werden soll, ganz auf das individuelle Urteil des Einzelnen gebaut werden müssen.

Auf ganz andere Art nur als das Kultur- und Geistesleben kann der Mensch wiederum das Wirtschaftsleben verwalten. Hier kommt nichts auf das Verständnis des Urteils des anderen Menschen an, sondern alles allein auf die Tatsache, dass dieses Urteil einmal gefällt wurde. Denn das Wirtschaftsleben ist das Produkt des Zusammenwirkens der Einzelurteile. Wenn der Bauer sagt: zu diesem oder jenem Preis werde ich die Ware anbieten können, dann hängt die Richtigkeit dieses Urteils von den Preisen der Waren ab, die er seinerseits kaufen muss. In diesen Preisen sind jedoch wiederum die Urteile anderer Menschen eingeschlossen. Und so hängt das Leben und Überleben jedes Menschen letztendlich davon ab, wie sich die Einzelurteile aller Menschen über die Erde hin real bedingen. Deshalb kann weder das individuelle, noch das demokratische Urteil Organisationsprinzip des Wirtschaftslebens ein. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt das mögliche Verhältnis von Produktion und Konsum ist, wird sich vielmehr allein einem gegenseitigen Wahrnehmen als kollektives Urteil ergeben können.

Aber auch das demokratische Urteil wird etwas zu tun haben, es wird nämlich zum ersten mal ergreifen müssen, was sein eigenes Gebiet ist: das Recht. Über dem deutschen Volk steht gegenwärtig eine Verfassung, die dieses Volk sich nicht selbst gegeben hat und die es sich auch niemals selbst geben wird, wenn es nach den Machthabern geht. Der alltägliche Rechtsverkehr wird zudem definiert durch das BGB, ein Gesetzbuch, das 1873 von Grundbesitzern aus dem römischen Recht von 533 n.Chr. übertragen wurde, und ebenfalls nie mit der Demokratie in Berührung gekommen ist. Das Gesetz wird sich in Zukunft aus einem demokratischen Urteil ergeben, und allein bei diesem Gesetz wird das Gewaltmonopol liegen.

So werden die Menschen drei verschiedene Formen der Urteilsfindung entwickeln müssen, wenn sie eines Tages auf allen drei Lebensgebieten mitsprechen wollen: Individualurteil, Kollektivurteil, demokratisches Urteil. Hier kann natürlich nur angedeutet werden, worauf es dabei ankommt. Man wird sich jedoch eine Ahnung von der konkreten Wirksamkeit dieser drei Urteilsformen verschaffen können, wenn man beobachtet, wo sie heute bereits unbewusst in Erscheinung treten. So will etwa die Hessnatur Genossenschaft das Textilunternehmen übernehmen. Das ist richtig gedacht, wirkt aber nur auf eines der drei Glieder, nämlich auf das Geistesleben. Denn was durch das Eigentum der tatsächlichen Verwalter von Hessnatur hergestellt werden kann, ist zunächst nur der Ausschluss irgendeiner Fremdeinwirkung auf das individuelle Urteil der Verwalter. Nun wollen diese Menschen aber etwas in der Wirtschaft bewegen, und aus diesem Wollen heraus vergeben sie Genossenschaftsanteile auch an Konsumenten von Hessnatur. Damit wird nun zwar zunächst nicht das Wirtschaftsleben, sondern das Rechtsleben berührt - allerdings auf ganz schiefe Art. Denn es erhalten ja Menschen, die nicht durch ihre Fähigkeit und nicht real mit dem Produktionsmittel verbunden sind, rechtliche Macht über diejenigen, die es sind.

Das ist ein ganz typischer Vorgang: Die alten Begriffe führen das wirtschaftliche Wollen dazu, die individuelle Freiheit des wirtschaftlich Produktiven mit Rechtsmitteln zu unterdrücken und somit gerade die Wirtschaft zu lähmen. Interessant ist nun aber das Beispiel Hessnatur deshalb, weil sich hier eben doch zeigt, wo ein rein wirtschaftliches Denken anknüpfen kann. Die Hessnatur Genossenschaft hat nämlich die Aufmerksamkeit vieler Konsumenten gewonnen. Deshalb ist der vorgesehene Käufer, ein Hedge-Fonds, wieder ausgestiegen - ihm war klar, dass Hessnatur ohne das Geld der Konsumenten nichts wert ist. Und obwohl sie nicht annähernd so viel Geld aufbringen kann wie der Spekulant, hat die Hessnatur Genossenschaft so doch wieder eine Chance im Bieterverfahren. Wirtschaftlich gewirkt hat also nicht irgendeine Mitbestimmung der Konsumenten, sondern die Artikulation des reinen Konsumentenstandpunktes. Ganz unbewusst hat da eine Kommunikation, ein gegenseitiges Wahrnehmen der Urteile von Konsumenten, Händlern und Produzenten stattgefunden. An diesem Beispiel lässt sich vielleicht erahnen, welche Macht eine bewusst ergriffene Assoziation aus Konsumenten, Händlern und Produzenten im Wirtschaftsleben entfalten wird. Ganz konkret muss deshalb an solchen Punkten für ein bewusstes Ergreifen der wirtschaftlichen Prozesse gewirkt werden. Angenommen etwa, wir schließen uns als Konsumenten zu einem Konsumentenverband zusammen, und dieser Konsumentenverband gibt öffentlich bekannt: wir Konsumenten von Hessnatur kaufen bei den Arbeitern von Hessnatur, aber nicht bei einem Spekulanten – welche Möglichkeit hat der jetzige Eigentümer dann noch, die Hessnatur Genossenschaft zu ignorieren? In dieser Art lässt sich das soziale Leben ergreifen und umgestalten, wenn also jeder der drei Prozesse in seiner eigenen Logik durchschaut und in der dieser Logik angemessenen Art angepackt wird.

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