Zum Trianon-Gedenken in Ungarn

14.06.2011

«Der ungarische Parlamentspräsident hat die nationalen Gemüter in der Slowakei aufs heftigste erregt. László Kövér äußerte in einem Zeitungsinterview anlässlich des offiziellen Trianon-Gedenktages in Ungarn, dass man «nicht einen Teil der ungarischen Nation aufgeben werde», und er die Slowakei «geistig, kulturell und historisch als zu Ungarn gehörig» empfinde. Zudem sei es im geeinten Europa möglich, die Einheit von Nationen «ohne Rücksicht auf Grenzen» wiederherzsutellten.» «Das ist eine Kriegserklärung, es ist Zeit für eine entsprechende Antwort», so die Worte eines Abgeordneten im slowakischen Parlament.»
[Zitat aus pesterlloyd.net 8.6.2011]

Am Trianongedenktag wird der Verträge gedacht, die nach dem Ersten Weltkrieg, am 4. Juni 1920, diktiert wurden und dazu führten, dass Ungarn einen grossen Teil seines Territoriums einbüßte. Seit da sind in den umliegenden Ländern ungarische Minderheiten, die in Rumänien und in der Slowakei auch im Parlament vertreten sind. Diese Vertretungen sind dort häufig Zünglein an der Waage für die Mehreitsfindungen. So versucht die ungarische Regierung dort Einfluss zu nehmen und fördert unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit die politisch nahestehende Ungarnpartei [1].

Das Problem, das sich hier auftut, zeigt sich überall auf der Welt und ist ein allgemeinmenschliches. Deshalb sei es verziehenen, wenn ein Fremder, aber doch auch Mensch, sich dazu äußert, der sich erhofft, dass dieses Ungarn es schafft, einen Schritt zu machen, hilfreich für alle. Es sei ein Blick von einem Nicht-Ungar erlaubt.

Durch geografische Lage und durch die besondere Sprache ist das Volksmäßige deutlicher ausgeprägt als in andern Völkern, in der Folge wohl auch das Geschichtsbewusstsein und das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein. Das ist nicht nur verständlich, sondern auch zu begrüßen und zu fördern. Es ist wohltuend, ein so kräftiges Zuhause zu haben. Die Kehrseite ist, dass die Gefahr besteht, dass das Zuhausesein im eigenen Selbst vergessen wird; dass der einzelne Mensch sich dem Ganzen zu leicht unterordnet.

Mit Vergleichen kann besser versucht werden, das Besondere Ungarns zu charakterisieren. Wo in der Schweiz das Wasser in alle Himmelsrichtungen wegläuft in die verschiedenen Meere, ist Ungarn geprägt durch das unterirdische Wasservorkommen unter der Tiefebene, wo es aus allen Richtungen zusammenfließt, entsprechend sind auch die Gebirge in der Schweiz zentral, um Ungarn am Rand. In der Schweiz treffen sich Kulturen; der Staat, der sich bildet, vereint diese, die Kulturen bleiben nach den umliegenden orientiert. – Das ungarische Volk bildet nur noch einen Teilstaat, rundherum die Staaten haben einen Bevölkerungsteil, der sich kulturell nach Ungarn orientiert.

Von der Schweiz wird gesagt, sie sei prädestiniert, mit der Einrichtung der sozialen Dreigliederung voranzugehen. Ich denke, für Ungarn gilt das ebenso, unter umgekehrten Vorzeichen, ja vielleicht sind die Voraussetzungen heute besser als in der Schweiz, die ein bisschen impulslahm und anlehnungsbedürftig geworden ist. Der ungarische Ministerpräsident scheut sich nicht, die Leute vom Internationalen Währungsfonds einfach stehen zu lassen, weil er sich nicht gängeln lassen will. Diesen Charakterzug braucht es wohl, um eigene Wege zu gehen.

Diesen Mut zu eigenen Wegen hat die Regierung Orbán auch mit Banken- und Multi-Krisensondersteuern bewiesen. Die Rentenversicherung wurden in gewissem Sinne rückverstaatlicht. Dies geschah, um Budgetlöcher zu stopfen, was natürlich nicht überall Freude hervorruft. So mutig der Schritt ist, so richtig erscheint er mir, ohne dass ich weiß, ob die Beweggründe die gleichen sind: Wenn ich im Alter nicht mehr tätig bin im Wirtschaftsleben, so brauch ich doch noch meine Konsumgüter, und die werden von der künftigen arbeitenden Generation erzeugt. Das Vertrauen auf diese Menschen, dass die mich nicht verhungern lassen, möchte ich nicht auf meine Kapitalanhäufung bauen, sondern darauf, dass die jetzige Generation die kommende zu anständigen Menschen erzieht. Abgesehen davon drohen diese Kapitalmassen in Blasen zu platzen, und vorher verteuern sie Liegenschaften und Produktionsmittel, sodass ich letztlich doppelt zahle für meine Rente, wenn ich sie über Kapital decken will [2].

Die Idee der sozialen Dreigliederung ist keine Ideologie. Sie ist den Tatsachen abgelauscht, sie ist eine Tatsache, und wartet nur darauf, dass die Menschen die Gesellschaft entsprechend einrichten. Kein Mensch lebt heute nur von dem, was er selbst erzeugt. Jeder arbeitet für andere und bezieht seine Mittel zum Leben von anderen. Und trotzdem leben wir mit der Wahnvorstellung, für uns selbst zu arbeiten. Dies ist eine Ideologie, ein Gedankengespinst ohne Hand und Fuss, das sogar zum wirtschaftswissenschaftlichen Dogma geworden ist.

Zurück zu diesem Zitat des ungarischen Parlamentspräsidenten, es sei «im geeinten Europa möglich, die Einheit von Nationen «ohne Rücksicht auf Grenzen» wiederherzustellen». Es ist begreiflich, dass es besonders schmerzt in diesem besonderen Volk, dass durch äußere Gewalt Teile dieses Ganzen weggeschnitten wurden. Doch nirgends auf der Welt ist es möglich, den Spagat zu schaffen, dass Volk und Terriotorium sich decken. Und wenn es das wäre, bliebe immer noch der einzelne Mensch die kleinstmögliche Minderheit, der seinen eigenen Willen hat und entsprechend sein Leben eirichten will.

Genau das wäre das Anliegen des freien Geisteslebens in der sozialen Dreigliederung; dass freie Vereinigungen möglich sind, nicht nur solche, die auf der Herkunft fußen, in die wir hineingeboren wurden, auch solche, die auf Zukunft gerichtet sind: Gemeinschaften, zu denen wir uns zusammenschliessen, entschliessen: Glaubensgemeinschaften, Musikvereine, Schulen, Forschungsinstitute.

Der Staat hat dabei nur darauf zu schauen, dass es mit rechten Dingen zugeht, und dass für alle das Gleiche gilt [3]. Vor solchen Vereinigungen müsste ein Nachbarstaat keine Angst haben, denn solchen Vereinigungen stehen keine militärischen Machtmittel zur Verfügung. Kriegserklärungen erübrigen sich.

[1] pesterlloyd.net 14.6.2011
[2] pesterlloyd.net 14.6.2011
[3] Das neu geplante ungarische Kirchengesetz widerspricht dieser Gleichheit. pesterlloyd.net 6.6.201