Die Dreigliederung in Schlesien 1919-1922

01.12.1973

Vorbemerkung

In der Nummer der Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus vom Mai d.J. findet sich am Schluß des Artikels: "Zur Strategie im Wirken für soziale Dreigliederung" von Fritz Götte das Zitat Dr. Steiner's: "Wir müssen darauf setzen", sagt Dr. Steiner zu den Oberschlesiern 1921, die wahrhaft als Streiter in einen Kampf für die Sache der Dreigliederung zogen, "Wir müssen darauf setzen, daß da, wo ein Wichtiges in der Welt geschieht, die Dreigliederung eine Stimme hat, daß sie nicht immer bloß abseits von den Ereignissen steht, daß sie wirklich die Momente aufsucht, durch die etwas getan werden kann..." Und da einige Zeilen zuvor zu einem Gespräch aufgefordert wird, so möchte ich aus dem tätigen Miterleben jener Zeit in Schlesien und zwar speziell von der angeführten Dreigliederungs-Aktion in Oberschlesien berichten. Es dürfte kaum noch jemand der Teilnehmer jener Ereignisse da sein. So mag denn dies immerhin historische und einmalige Geschehen festgehalten werden. Tatsächlich am letzten, heißesten Ort der Tournee flogen uns von fanatischen Gegnern die Kugeln um die Ohren, sodaß nur schnelles zu Bodenwerfen uns retten konnte.

Ich meine, daß es vielleicht wichtig ist und für die heutige Jugend und Gegenwart interessant zu hören, wie jemand individuell in der damaligen Zeit, also vor nunmehr gerade 50 Jahren, an die geistigen und sozialen Fragen, also auch die Anthroposophie und Dreigliederung herangekommen ist, diese erlebte und heute wieder voll darinnen steht im Geisteskampf, dessen Entscheidung wir entgegengehen.

Die Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organismus, wie sie Rudolf Steiner 1919 durch den "Aufruf an das Deutsche Volk und die Kulturwelt" begründete, hatte zwar ihr stärkstes Zentrum und Wirkensfeld in Stuttgart bzw. in Württemberg, jedoch fanden sich auch sehr bald Menschen im weiter entfernten Schlesien, die aus der Erkenntnis und der Grundlage der anthroposophisch-orientierten Geisteswissenschaft Rudolf Steiners Verständnis für diesen sozialen Impuls und Begeisterung dafür aufbrachten und sich für ihre Verbreitung und mögliche Verwirklichung nach Kräften einsetzten.

Aus dem persönlichen Miterleben dieser Bemühungen in den Jahren 1919/1922 sei nun wunschgemäß berichtet:

Nach dem unglücklichen Ausgang des 1. Weltkrieges 1914/1918 und den schweren Kriegs- und Nachkriegserlebnissen, sowohl an den Kriegsfronten als auch in der Heimat, stellte sich bei vielen Menschen stark die innere Frage nach dem Wesen und Sein des Menschen und den sozialen Zusammenhängen, Nöten, deren Ursachen und Lösungsmöglichkeiten. Ich selbst war von allen den Fragen schon lange innerlich erfaßt, sie beschäftigten und bewegten mich sehr, ja sie führten in mir gleichsam ein richtiges Leben. Nur wußte ich nicht, ist das eine Wirklichkeit gegenüber dem äußeren Leben um mich herum? Ich hatte schon mit 17 Jahren aus gesundheitlichen Gründen eine sehr gute Gymnastikmethode gefunden und geübt, eine Geistesschule mit Konzentrationsübungen gemacht, Tagebuch geführt. Das alles hatte mich, muß ich heute sagen, geistig wach für die inneren und auch äußeren Dinge gemacht und mich in meiner ganzen Entwicklung sehr gefördert. Das ging auch im Schützengraben weiter und so hatte ich viele nächtelange Gespräche mit meist älteren Kameraden, vor allem mit Rheinländisch-Westfälischen Bergleuten, oft auf einsamer Sappenwacht; aber auch mit jungen Bauernsöhnen über religiös-weltanschauliche Fragen. Das alles vermittelte mir viele Einsichten und Kenntnisse über Lebensfragen.

Ich war infolge der zweiten Verwundung im September 1918 zum Heimatersatzbataillon nach Mülheim/Ruhr, somit mitten ins Ruhrgebiet verlegt, erlebte am 9. November 1918 die Revolution. Was dem Drang und den Idealen bei Kriegsende noch im Ruhrgebiet (Mülheim/Ruhr und Essen) sich zunächst anbot an sozialer Richtung, war der Marxismus-Spartakismus. Ich blieb bis zum Frühjahr 1919 bei den Spartakisten und konnte gerade noch im April durch die umstellenden Regierungstruppen hindurch nach Breslau, meiner Heimatstadt, zu den Eltern gelangen. Hier war ich bald innerlich erfaßt von einer Welle geistigen Suchens und Strebens, wie sie in der Zeit auch bei vielen anderen Menschen heraufbrandete. Noch im Felde hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: "Wenn Du die innere Kraft, die Du jetzt erlebst, nach der Rückkehr in der Heimat wieder findest, so kann Dir vor nichts bange sein". Jetzt fand ich sie wieder. Das drängte weiter. So schrieb ich auch an einer Arbeit: "Das Geheimnis von der Kraft der Seele": Ich kam jedoch nicht ganz befriedigend zurecht mit der gedanklich-begrifflichen Darstellung; Geist, Nerven, Blut und Seele, das fügte sich nicht recht zusammen.

So suchte ich drängend weiter und fand dann einen einige Jahre älteren Freund, der ähnliches durchlebte, Georg Klingberg. Alle möglichen Veranstaltungen wurden besucht, politische, Telepathie, Hypnose, was es alles damals gab. Bis wir eines Tages eine Annonce in der Zeitung fanden, im September 1919: "Anthroposophie, ein Weg vom Glauben zum Wissen", von Moritz Bartsch. Da mußten wir hin. Ich wußte auch sofort, das ist es, was Du suchst. Wir trugen uns gleich in die Interessentenliste ein. Von da an wurde jede Veranstaltung besucht. Der Weg war gefunden. Es war der erste öffentliche Vortrag über Anthroposophie von Rektor Moritz Bartsch. Bald hörten wir auch über Dreigliederung sprechen und es begann auch bald eine rege, öffentliche Vortragstätigkeit des "Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus", der sich auch bei uns in Schlesien bildete. Hauptsächlich wurde die anthroposophische und die Dreigliederungstätigkeit von Moritz Bartsch gefragen. Er war, obwohl zierlich von Gestalt, eine geistig lebendige Persönlichkeit. Ein anerkannter Schulmann, beschlagen aber auf allen Gebieten, vor allem aber war er menschlich-warmherzig, geisteswissenschaftlich geschult, humoristisch und so ein guter und glänzender Redner. Bald hiess er nur: Der Vater Bartsch.

In den größten Sälen von Breslau wurden Vorträge gehalten über die Dreigliederung mit anschliessenden lebhaften Diskussionen, besonders in den Arbeitsvierteln des Westens, im "Kronprinzen" und "Schießwerder". Da waren hauptsächlich die Arbeiter und Angestellten der großen Werke, Maschinen- und Lokomotivbauanstalt "Linke-Hoffmann" mit einigen tausend Arbeitern und Angestellten, die "Archimedes-Schraubenfabrik" u.a. Und immer waren die Säle gespannt voll. Der Schreiber hatte indessen wieder Verbindung mit den führenden Kommunisten und Anarchisten aufgenommen und viele Gespräche über Dreigliederung geführt. Sie brachten das eheste Verständnis und Bereitwilligkeit dafür auf und leisteten in den Diskussionen der großen Versammlungen wertvolle Beiträge und Hilfe. Die Versammlungen waren meist groß plakatiert, von uns Jugendlichen wurden gute Handzettel verteilt. Bis nach 2 Uhr gingen die Diskussionen und solange waren auch die Klebekolonnen unterwegs. Diese Jahre 1919/1922 waren auch bei uns in Breslau/Schlesien, wohin sich die Dreigliederungsbewegung indessen ausgebreitet hatte, eine geistig und politisch stürmisch bewegte Zeit. Wie eine geistige Welle konnte man das erleben. In der Folge fanden sich auch eine große Anzahl Menschen zur Anthroposophie und Dreigliederung hinzu. Es war da eigentlich bei uns keine Trennung. Etwa fünfhundert Mitglieder zählten wir damals meines Wissens. In der Dreigliederungsarbeit waren wir fast gar auf unsere eigenen Kräfte angewiesen. Einmal sprach im großen Börsensaale der damals 21-jährige Günter Wachsmuth. Dann konnten wir Walter Kühne für eine Zeit nach Breslau holen. Er bestritt mit die großen Vorträge im "Kronprinzen" vor den Arbeitern über Karl Marx, Hegel und seine Dialektik und die Dreigliederung u.a. Dann war er aber auch mitbeteiligt an unserer Oberschlesienaktion, von der noch berichtet werden soll. Zunächst sei noch erwähnt, daß diese ganze Arbeit nicht nur ermöglicht war durch die tätige und aktive Beteiligung vieler Freunde und Mitglieder und deren Beiträge, sondern auch durch die großmütige und tatkräftige Förderung und finanzielle Hilfe von Graf und Gräfin Keyserlingk, Schloß Koberwitz bei Breslau, wo ja dann 1924 auch der landwirtschaftliche, biologisch-dynamische Kurs stattfinden konnte. Ein Höhepunkt, auch rein äußerlich, war, als Dr. Herbert Hahn und Dr. Kolisko auf ihrer Vortragsreise durch deutsche Städte 1921 bei uns in Breslau eintrafen.

Dr. Steiner hatte ausdrücklich, um der Dreigliederung weiteste Verbreitung zu schaffen, im Februar 1921 eine Reihe von Persönlichkeiten dafür nach Stuttgart gerufen, sie in einem eigens für diese Aufgabe gehaltenen Vortragskurs, dem sogenannten "Rednerkurs" vorbereitet. Wir hatten für den Vortragsabend in Breslau für Dr. Herbert Hahn und Dr. Kolisko einen der größten und neuesten Säle, das sog. Etablissement "Friedeberg", im vornehmen Stadtteil im Süden Breslaus, gemietet, während die meisten Versammlungen in den Arbeitergegenden im Westen stattfanden. Der Saal war wie immer stoppend voll, mit erwartungsvoll gespannter Atmosphäre. Unsere Arbeiterfreunde, vier Kommunistenführer mit Anhängern waren wieder erschienen. Hoch oben von der Empore sprach zunächst Moritz Bartsch einige einleitende Worte, dann begann von oben herunter Dr. Herbert Hahn seinen begeisternden Vortrag, danach Dr. Kolisko ruhig-sachlich. In der anschliessenden Diskussion ergriffen auch unsere Arbeiterfreunde das Wort. Es war ein großer, denkwürdiger Tag in unserer Arbeit mit einem guten Verlauf. Einer der Kommunistenfreunde, der jüngste, ca. 35 Jahre alt, mit dem ich nach dem Vortrag nach Hause ging, starb dann eine Zeit später im Gefängnis für seine Anschauung mit der Theosophie in den Händen.

Im Jahre 1921 war ja in Schlesien die oberschlesische Frage in ein akutes, gefährliches Stadium geraten durch den deutsch-polnischen Gegensatz, das Aufkommen der Nationalismen in die Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung. In dieser Situation war die Bemerkung Dr. Steiners aufgegriffen worden: "Man könne ja in einem Gebiet die Dreigliederungsidee positiv-praktisch versuchen anzuwenden." Daraufhin fanden durch Herrn Moritz Bartsch, Walter Kühne und andere Freunde in Stuttgart mit Herrn Dr. Steiner darüber Besprechungen statt, ob und wie man da in der oberschlesischen Frage vielleicht helfend eingreifen könnte. Dr. Steiner war dafür, es wurde die Sache beschlossen und auch die nötigen finanziellen Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Die Aktion Oberschlesien der Bewegung für Dreigliederung begann also zu laufen. Eine Geschäftsstelle in der Kaiser-Wilhelm-Straße in Breslau in den Räumen der Anthroposophischen Gesellschaft wurde eingerichtet mit Herrn Umlauf als Geschäftsführer, Fräulein Ehmeling und dem Schreiber dieser Zeilen als Mitarbeiter. Vier Vortragsgruppen wurden zusammengestellt, die Vortragsroute durch die Städte Oberschlesiens festgelegt. Jede der Gruppen bestand aus vier Menschen, dem Vortragenden, dem Gesprächsleiter, der gleichzeitig die Einleitung des Abends hatte, und zwei Helfern. Diese fuhren dann von Ort zu Ort voraus, um die Abende vorzubereiten, die Plakatierung, Bekanntmachung, Mieten der Säle, Besprechung mit den Tageszeitungen und dergl.

1. Gruppe: Redner Rektor Moritz Bartsch
2. Gruppe: Redner Walter Kühne, freier Schriftsteller, Philosoph
3. Gruppe: Redner Walter Meyen, Privatgelehrter
4. Gruppe: Redner Franz Alwes, Regierungsbaurat, Studienrat.

Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, ging die Aktion los, um den Versuch zu wagen, aufgrund der Dreigliederung die oberschlesische Frage lösen zu helfen. Zu je vier Mann zogen wir also in vier Gruppen durch die hauptsächlichen Städte Oberschlesiens in der vorher bestimmten Route mit Vorträgen, Diskussionen in meist bis zur Siedehitze gespannter Atmosphäre, dem Gefangensetzen des Redners und Schießereien mit Not entkommend. Ein sofortiger und unmittelbarer Erfolg der Bemühungen konnte zwar nicht erbracht werden, da die nationalen Gegensätze zu stark waren, aber vielleicht insofern doch, daß die unmittelbar bevorstehende gewaltsame Auseinandersetzung verhindert wurde, zunächst eine Teilung Oberschlesiens in einen polnischen Teil und einen deutschen Teil erfolgte, bis unter Hitler dann ca. 20 Jahre später in dessen Sinne gewaltsam und katastrophal die Frage angefaßt wurde.

Es hatten sich in verschiedenen der besuchten Städte interessierte Gruppen gebildet, die von unserer Breslauer Geschäftsstelle weiter betreut wurden. Bis dann nach und nach im Lauf der Geschehnisse die Verbindung abriß, aber doch meist einzelne Menschen zu der Bewegung hinzufanden. So war es auch mit unserer Dreigliederungsarbeit geworden, daß im Laufe der Zeit einzelne Menschen nur oder in kleineren Gruppen den Impuls der Dreigliederung pflegten, lebendig im eigenen Innern bewahrend, bis jetzt nach 50 Jahren nicht nur in der anthroposophischen Bewegung, sondern diesmal weltweit der Christusimpuls der Dreigliederung neu und verstärkt auftritt, vornehmlich jetzt von der Jugend der gesamten Welt ergriffen wird und erkämpft werden will.

Das aber sollte und kann nur geschehen mit dem verständnisvollen Zusammenarbeiten von jüngeren Menschen und älteren Dreigliederern, wenn diese älteren Dreigliederer den Impuls in die Sprache der Zeit, in die Sprache der Jugend, kleiden oder formen können.

Denn nur — "In Gemeinsamkeit" — und "Wenn die Einzelegoismen schweigen" kann etwas erreicht werden (R. St.). Diese furchtbar ernsten Worte Rudolf Steiners sollten heute zu Herzen gehen, zur fruchtbaren gemeinsamen Tat, — "In der Liebe zum Handeln".

Quelle

Beiträge zur soziale Dreigliederung, Dezember 1973, Seite 33-38. Bibliographische Notiz