Liberale Ordnung, Nationalstaat und Nationalismus – Nachüberlegungen zur Tragödie Jugoslawiens

01.12.1999

Quelle
Zeitschrift „Der Europäer“
Jahrgang 4, Heft 2-3, Dezember 1999 / Januar 2000, S. 16-18
Bibliographische Notiz

Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors

Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde 1989 von westlicher Seite aus das «Ende der Geschichte» verkündet. So lauteten die Titel eines Aufsatzes und eines nachfolgenden Buches aus der Feder des damaligen Chefs des Planungsstabes im amerikanischen Außenministerium, Francis Fukuyama.

Das Ende der Geschichte sei insofern gekommen, als der Kampf um die richtige Herrschafts- und Sozialordnung mit dem Zusammenbruch des Ostblocks an ein Ende gekommen sei. Die westliche Ordnung der liberalen Demokratie habe sich als konkurrenzlos richtig erwiesen. Es werde jetzt nur noch darum gehen, dieses System auch wirklich überall auf der Welt durchzusetzen, aber nicht mehr darum, es zu diskutieren oder in Frage zu stellen. Fukuyama stellte die liberale Demokratie als den «Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit» und die «endgültige menschliche Regierungsform» dar. [1]

Zu den typischen Elementen dieses Systems gehören die Bestimmung der Regierenden aufgrund demokratischer Wahlen, die Begrenzung der Regierung durch Rechtsgrundsätze und die marktwirtschaftliche Ordnung.

Ein häufig unterschlagener Bestandteil dieser liberalen Ordnung, wie sie im Westen verstanden wird, ist auch der Nationalstaat. Das ist etwa deutlich geworden in den Diskussionen und Frontverschiebungen, die seinerzeit nach 1990/91 der Golfkrieg ausgelöst hatte. Von Kriegsbefürwortern wurde damals gerne darauf hingewiesen, daß der Nationalstaat eben nicht überholt, sondern weiterhin das tragende Element einer internationalen Ordnung der Zukunft sei. [2] Der Krieg wurde als Verteidigung einer internationalen Ordnung der Nationalstaaten gerechtfertigt, die der Irak mit seinem Überfall auf Kuwait gestört hätte. Das war – angewandt auf Kuwait – nicht ohne Ironie – hat es doch etwas eher Willkürliches, Mutwilliges gehabt, hier von einer Nation zu sprechen. Das Land ist eine typische Schöpfung einer englischen Einflußsphären- und divide et impera-Politik aus der ersten Jahrhunderthälfte. Aus der Sicht des Kosovo-Krieges ironisch war auch, daß damals mit solcher Hartnäckigkeit auf die fortwirkende Bedeutung des Völkerrechts und der Souveränitätsrechte hingewiesen wurde. Man hat eben damals eine gewaltsame Grenzverschiebung – die Einverleibung Kuwaits durch den Irak – rückgängig gemacht, während man im Kosovo eine gewaltsame Grenzverschiebung – die faktische Loslösung des Kosovo aus Jugoslawien – durchgesetzt hat; und man hat seine rechtlichen Argumente opportunistisch der jeweiligen Situation angepasst.

Die «liberale Ordnung», wie sie sich in Westeuropa seit dem 17. Jahrhundert entwickelte, hatte als eine Voraussetzung die Herausbildung national relativ homogener Staaten in diesem Teil der Welt seit dem 15. Jahrhundert. Es sind diese homogenen Staaten gewesen, die ihre innere Gliederung erst nach liberalen und später auch nach demokratischen Grundsätzen ausrichteten. Die liberale Demokratie, die – mit einem Ausdruck Rudolf Steiners – ein «Einheitsstaat» ist, beruht auf einem gewissen Einheitsbewußtsein, das durch das ins Politische überführte Nationalgefühl hergestellt wird. In Vielvölkerstaaten hat sie sich nur begrenzt als verwendbar erwiesen.

Es ist übrigens charakteristisch, daß der ursprüngliche und grundlegende Zusammenhang, den diese Ordnung mit dem Nationalstaat hat, in England, dem liberalen Staat par excellence, immer dann wieder an die Oberfläche kommt, wenn das nationale Moment bedroht scheint. So haben in letzter Zeit englische Europagegner diesen Zusammenhang hervorgehoben. [3] Tatsächlich ist ja das westliche Nationsverständnis viel enger ans Politische gebunden als etwa das traditionelle deutsche mit seiner Betonung von Kultur und Sprache. Für dieses westliche Verständnis ist eine Nation ohne eine ihr zugehörige politische Handlungseinheit kaum denkbar.

Bedenkt man diese Verbindungen, so erscheint es nicht mehr als Zufall oder als Verkettung unglücklicher Umstände, wenn in der zusammenbrechenden kommunistischen Welt Mittel- und Osteuropas um 1989 überall Nationalismus freigeworden ist. Dieser Nationalismus stand in einem engen, ursächlichen Zusammenhang mit der Aufnahme des liberalen Modells als Zukunftsideal durch diese Völker. Die Völker haben gespürt, daß das liberale Modell eben Nationalismus «braucht», daß in einem solchen Nationalismus der Kitt besteht, mit dem die Bevölkerung einer liberalen Demokratie zusammengehalten wird.

Charakteristisch war, daß in Serbien der Nationalismus gerade in den Jahren 1986 und 1987 nach oben kam und gewissermaßen die Gesellschaft überflutet und umgewälzt hat. Das waren die Jahre, in denen in der Sowjetunion Gorbatschows neues Programm von Perestrojka und Glasnost sichtbar wurde und die internationale politische Landschaft zu transformieren begann. Das heißt: die Fundamente der kommunistischen Herrschaft begannen zu bröckeln, und es setzte damit in den ehemaligen Satellitenstaaten und auch in Jugoslawien die Bewegung hin zur «liberalen Ordnung», zum «normalen Land» – wie man es später nannte – ein, jene Bewegung, die dann 1989 ihren Durchbruch erlangte. Das heißt aber: es setzte zugleich ein eine Bewegung hin zum Nationalstaat und damit auch zum Nationalismus. Das wurde durch Gorbatschows hochfliegende Pläne und seine großangelegte Menschheitsrhetorik anfangs noch überdeckt, – es lag aber in der Logik der tatsächlichen Entwicklung, und das haben die Völker gespürt.

In Serbien gelangte 1986 jenes Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften an die Öffentlichkeit, das häufig als Ausgangspunkt der Politik der nachfolgenden Jahre namhaft gemacht wurde. [4] Und 1987 kam Milosevics Durchbruch nicht nur in der Partei, sondern auch beim serbischen Volk; er wurde zum «Führer» im «nationalen Kampf». Ein serbischer Architekt und Gegner Milosevics hat die Atmosphäre im Belgrad des Jahres 1987 beschrieben:

«Im Herbst dieses Jahres, als ich nach einer im Ausland verbrachten Woche nach Belgrad zurückkehrte, stellte ich fest, daß etwas viel Größeres sich zu drehen begonnen hatte als das übliche Kaderkarussell (...) Belgrad war nicht zu erkennen. Es befand sich in einer Art Fieber. Der schöne Herbst lockte die Menschen, bis spätnachts in den Gasthäusern und Gasthausgärten zu bleiben. Der Drina-Marsch dröhnte von allen Seiten, der Marsch, mit dem man einst in den Ersten Weltkrieg gezogen war. Man hielt Reden und brachte Toasts aus. Im Fernsehen sah man Reklamen für ein luxuriöses, aber umetikettiertes (...) Rasierwasser für Männer, das man seltsamerweise ‹Woschd› nannte. Diese halb vergessene, beinahe legendäre Bezeichnung war eigentlich Karadjordjes Titel zur Zeit des ersten serbischen Aufstands zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Wörtlich: der Führer.

Durchsichtige Schönheiten (...) flüsterten einander zärtlich, aber leidenschaftlich ins Ohr: ‹Der Führer ist gekommen! Der Führer ist gekommen!› Auch die angesehenen Mitglieder der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste begrüßten den Führer, genauso wie die Schriftsteller, Künstler und Sportler; sie erstickten beinahe alle vor Komplimenten.» [5]

Erhellend für die Verbindung zwischen liberaler Ordnung und Nationalstaat sind einige Äußerungen des englischen Journalisten Timothy Garton Ash. Ash hat mit seinen Reportagen, die seit Beginn der 80er Jahre auf Englisch im New York Review of Books, später auch in der deutschen Ausgabe von Lettre Internationale veröffentlicht wurden, das Bild, das sich der Westen von Osteuropa machte, mitgeprägt. So kenntnisreich und interessant diese Reportagen sind, sind sie doch immer auch durchwoben von Suggestionen im Sinne einer anglo-amerikanischen, westlichen Gesamtpolitik. Ash hat in den Jugoslawienkriegen einen Beweis dafür gesehen, daß es nach 1989 wichtiger gewesen wäre, entschlossen eine «liberale Ordnung» im gesamten Europa durchzusetzen, als sich zunächst um den weiteren Ausbau der Europäischen Union zu kümmern. In seinen Reflexionen über die Grundlagen einer solchen liberalen Ordnung in Europa kommt er zu Gedanken, in denen der oben aufgezeichnete Zusammenhang plausibel werden kann.

«Eine (...) liberale Ordnung akzeptiert, daß es eine Logik gibt, die Menschen, die dieselbe Sprache sprechen und die dieselbe Kultur und Tradition miteinander teilen, dazu führt, sich selbst in ihrem eigenen Staat regieren zu wollen. Es gibt so etwas wie einen liberalen Nationalismus.

(...) Die Geschichte lehrt, daß ein gegenwärtiger europäischer Nationalstaat, dessen Mehrheitsethnie weniger als 80% der Gesamtbevölkerung ausmacht, aus inneren Gründen unstabil ist.» [6]

Ash mit seiner Verkündung der liberalen Ordnung ist kein Gegner des Gedankens der Vereinigung, wie sie in der Europäischen Union durchgeführt wird. Nach einer zugleich realistischen und – in höherem Sinn – perversen Logik betrachtet er die Herausbildung ethnisch homogener Kleinstaaten geradezu als Voraussetzung der Einigung.

«Wir haben es (...) mit einer fast hegelianischen Dialektik zu tun: Trennung als Weg zur Integration. Aber ist uns diese Dialektik so fremd? Schließlich wurden wir in Westeuropa seit langer Zeit in Nationalstaaten gepresst, in einem Prozeß, der vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert dauerte. Sicherlich gibt es ein paar Ausnahmen, aber selbst diese – wie etwa Belgien, das zunehmend zwischen seinen französisch oder flämisch sprechenden Gebieten geteilt ist, oder Schottland in Großbritannien – sind inzwischen nur noch unter Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten. (...) Eben auf dieser Grundlage eindeutiger Aufteilung in Nationalstaaten sind wir in der Europäischen Union zusammengekommen, im selben Maße, wie wir durch die Einwanderung auch wieder ethnisch stärker durchmischt wurden.» [7]

Nimmt man derartige Äußerungen zusammen, so wird man vielleicht zum Schluß kommen, daß es in Jugoslawien und den dortigen Kriegen seit 1991 nicht so sehr um einen Aufstand gegen diese liberale Ordnung ging, sondern eher um einen wilden, chaotischen Versuch, sie zu verwirklichen, bzw. die Grundlagen zu ihrer Verwirklichung zu schaffen. Die liegen ja nach Ashs plausibler Analyse eben in einer relativ großen ethnischen Homogenität («80 Prozent», wie oben gesagt wurde). «Ethnische Säuberungen» erscheinen in diesem Lichte eher als unschöne, aber unvermeidliche Nebeneffekte einer Durchsetzung der liberalen Ordnung, denn als ihr Gegensatz.

Es ist klar, daß hier der gleiche Problemkreis aufgerissen wird, wie 1917 durch Wilsons Proklamation eines Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte die Anerkennung eines solchen Selbstbestimmungsrechts zu einem Teil seines Friedensprogrammes für den 1. Weltkrieg gemacht. Das bildete so etwas wie eine rechtliche Grundlage für die Zerschlagung des deutschen und des österreichischen Kaiserreichs 1918. Rudolf Steiner hat sich damals in einer Vielzahl von Äußerungen gegen dieses Programm gewandt. Er sah darin eine grundsätzliche Verkennung des Wesens des Politischen, in dem man nicht die Völkerbefreiung, sondern nur die Menschenbefreiung anstreben dürfe: «Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in gesunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird. Strebt man anstatt des letzteren das erstere an, so stellt man sich auf den Boden des weltgeschichtlichen Werdens. Will man das letztere, so arbeitet man diesem Werden entgegen und legt den Grund zu neuen Konflikten und Kriegen. (...) bei Verwirklichung des Wilsonschen Programmes gehen die europäischen Völker zugrunde.» [8] Diese Folgen sind dann nach dem 1. Weltkrieg tatsächlich eingetreten. Ausgerechnet Winston Churchill hat das später in seinem grandios-pathetischen Stil folgendermaßen zugegeben und beschrieben: «Es gibt keine einzige Völkerschaft oder Provinz des Habsburgischen Reiches, der das Erlangen der Unabhängigkeit nicht die Qualen gebracht hätte, wie sie von den alten Dichtern und Theologen für die Verdammten der Hölle vorgesehen sind.» [9]

Der damals angestoßene Prozess geht heute immer noch weiter. Die Kriege in Jugoslawien seit 1991 sind die Fortsetzung jener durch die Proklamation des Selbstbestimmungsrechtes in Gang gesetzten – oder zumindest zusätzlich nobilitierten – Vorgänge, die nach 1945 durch den Kommunismus nur zeitweilig außer Kraft gesetzt waren. [10] Wie 1918 die Parole des Selbstbestimmungsrechtes die Habsburger Monarchie auseinanderbrechen ließ, so 1991 die Vorstellung des «normalen europäischen Landes», d.h. der «liberalen Demokratie», Jugoslawien.

Eine weitere Äußerung von Ash zeigt schließlich, in welchen größeren politischen Zusammenhang eine solcherart verwirklichte liberale europäische Ordnung hineingehört, welcher zusätzlichen Stütze sie bedarf, um lebensfähig zu sein.

«Die liberale Ordnung ist von ihrem Entwurf her nicht-hegemonial. Das System hängt allerdings zu einem gewissen Ausmaß davon ab, daß es einen hegemonialen Gleichgewichtsgeber von außen gibt, die Vereinigten Staaten, – der Befrieder Europas, wie es mehr als ein Autor ausgedrückt hat.» [11]

Die liberale Ordnung in Europa ist also ein System, das die Vorherrschaft der USA als einer Ordnungsmacht braucht und das deshalb diese Vorherrschaft – wie sie ja ohnehin besteht – zementiert.

Bedenkt man den Zusammenhang zwischen liberaler Ordnung und Nationalstaat, so erscheint es geradezu paradox, wie sehr die öffentliche Rhetorik Europas – und zumal Westeuropas – von einem demonstrativen Anti-Nationalismus, Anti-Rassismus etc. geprägt wird. Einerseits werden die europäischen Völker in eine Ordnung hineingepresst, die den Nationalismus als Kitt verlangt und damit auch hervorbringt bzw. hervortreibt. Andererseits wird dieser Nationalismus, wenn er sich denn äußert, als Sünde betrachtet und mit einer teilweise scharfen und aggressiven Rhetorik bekämpft.

Es ist ein klassischer Double-Bind – ein gleichzeitiges Bestehen zweier nicht miteinander vereinbarer Ziele –, der hiermit installiert ist und die europäischen Völker in einem Zustand der Verzweiflung hält, solange er nicht erkannt und verstanden wird. Es ist auch eine Konstellation, die sie einer geschickten Einwirkung von außen – die jeweils jenes der beiden Momente akzentuiert, das sie gerade braucht – hilflos gegenüberstehen lässt.

Es gäbe aus diesem Double-Bind zwei Ausbruchsmöglichkeiten: zum einen eine entschlossene Propagierung des Nationalismus, bis hin zu einer neuen faschistischen Welle in Europa. Dabei ist es nur zweitrangig, inwieweit sich ein solcher Faschismus noch innerhalb einer liberalen oder hin zu einer diktatorischen Ordnung bewegen würde. Die andere, bessere, Möglichkeit läge in einem Abwerfen des Ideals der liberal-nationalstaatlichen Ordnung hin zu Einrichtungen, die das politisch-staatliche Leben nicht mehr auf nationale Grundlagen zu stellen versuchen. Einen Vorschlag zu solchen Einrichtungen enthielt die Dreigliederungslehre Rudolf Steiners, in der er 1917 ein Gegenprogramm zu Wilsons 14 Punkten und seiner Doktrin vom Selbstbestimmungsrecht entwarf.

Andreas Bracher, Hamburg

Anmerkungen

[1] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992, S. 11.

[2] Beispielsweise in Dan Diner, Der Krieg der Erinnerungen und die Ordnung der Welt. Berlin 1991.

[3] So etwa: John Laughland, The Tainted Source. The Undemocratic Origins of the European Idea. London 1997.

[4] Es wurde beispielsweise veröffentlicht in Info 3, April 1999

[5] Bogdan Bogdanovic, Der verdammte Baumeister. Erinnerungen. Wien 1997, S. 253f

[6] Timothy Garton Ash, The Case for Liberal Order, in: History of the Present. London 1999. Zitate auf S. 330f, 373.

[7] Timothy Garton Ash, Weine, zerstückeltes Land!, in: Lettre International, Nr. 44, S. 14.

[8] Rudolf Steiner, Erstes Memorandum vom Juli 1917, GA 24.

[9] Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg. Bern, München, Wien 1989, S. 20 (zuerst 1948).

[10] Auf den Zusammenhang mit Wilsons Programm hat besonders nachdrücklich hingewiesen: Markus Osterrieder, «Das Jahrhundert der ‹ethnischen Säuberungen›», in: Das Goetheanum, 13.6.1999, S. 421-427.

[11] Ash, History of the Present, a.a.O., S. 330.