Der blinde Fleck der Gesellschaftskritik - Leserbrief

06.01.2020

Übersicht über die Kontroverse Der blinde Fleck der Gesellschaftskritik
zwischen Georg Klemp und Johannes Mosmann

Johannes Mosmann arbeitet in seinem Artikel über den „blinden Fleck der Gesellschaftskritik“ Grundsätze des Dreigliederungsgedankens heraus: das Prinzip der „Demokratie“ mit Wahlen, Abstimmungen und der Formulierung von Gesetzen sei der Bereich des Rechtslebens und damit des Staates. Alles, was mit den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu tun hat, gehöre dagegen in das Wirtschafts- und Geistesleben, welche nach anderen Grundsätzen gestaltet werden müssten. In der linken Forderung nach einer Demokratisierung der Gesellschaft, die auch den ökonomischen Bereich umfasst, sieht Mosmann einen Irrweg, der dem Staat Aufgaben zuordne, die nicht in seine Kompetenz fallen.

Problematisch ist nicht diese Darstellung an sich, sondern die unzureichende Untersuchung der scheinbaren Gegenposition, die auf ein grundsätzliches Problem verweist: es wird häufig nicht beachtet, dass Steiner Begriffe in einer spezifischen Bedeutung verwendet, die bei anderen Autoren u.U. mit anderen Inhalten verbunden sind. Steiner verwendet den Demokratiebegriff im Sinn der repräsentativen parlamentarischen Demokratie, die er nur auf das Rechtsleben beschränken will. Mosmann entgeht dabei, dass es eine ganz andere Tradition des Demokratiebegriffs ausgehend von der Aufklärung gibt, die diesen ganz allgemein im Sinn von Partizipation der Menschen an der Gestaltung der Gesellschaft versteht.

Eine Gesellschaft, die nach den Grundsätzen der Dreigliederung gestaltet wäre, hätte ein Höchstmaß an Partizipation aufzuweisen, da alle Menschen an allen drei Gesellschaftsgliedern beteiligt sind und wäre damit im ursprünglichen Sinn radikaldemokratisch. Die Reduktion des Demokratiebegriffs auf den Parlamentarismus war von Anfang an, d.h. bereits während der Amerikanischen- und der Französischen Revolution das Bestreben der herrschenden Machteliten. Darauf weist der Psychologe Rainer Mausfeld in zahlreichen seiner Vorträge hin. Als eindrückliches Beispiel aus späterer Zeit für eine zielgerichtete Manipulation durch Umdeutung des Demokratiebegriffs, nennt Mausfeld die Dewey-Lipmann-Kontroverse, die in den 1920er Jahren in den USA stattfand.[1]

Es erstaunt, dass Mosmann ausgerechnet Rainer Mausfeld unter diejenigen einordnet, denen er einen blinden Flecken in ihrer Gesellschaftskritik attestiert, indem das Abstimmungsprinzip als einziges gesellschaftliches Gestaltungsinstrument gesehen werde. Mausfeld bezeichnet dagegen das Abstimmungsprinzip als uninteressantesten und unwichtigsten Teil der Demokratie, dem nur als Ultima Ratio eine Bedeutung zukomme, wenn andere Verständigungsverfahren versagt haben.

Es lohnt sich, etwas ausführlicher auf Rainer Mausfeld einzugehen, da dieser in besonders tiefgründiger Weise die Demokratiefrage ausleuchtet und gleichzeitig eine Strömung linker Gesellschaftskritik repräsentiert. Schon allein der Gedanke daran, dass es gesellschaftliche Alternativen zum herrschenden Kapitalismus geben könnte, wird durch Manipulationsmethoden abgewehrt, die Mausfeld im Detail analysiert. Dies trifft natürlich auch die Vorstellung einer Gesellschaft, wie sie Steiner mit der Dreigliederungsidee verband (leider scheinen auch Teile der Dreigliederungsbewegung sich eine Gesellschaft jenseits kapitalistischer Rahmenbedingungen nicht vorstellen zu können). Daher sind Mausfelds Forschungen auch für die Dreigliederungsbewegung relevant.

Mausfeld rechnet zu den ursprünglichen Demokratiekonzepten insbesondere die Rätedemokratie, die er namentlich mit den Ideen des Astronomen Anton Pannekoek verbindet.[2] Auch wenn es sicher bedeutende Unterschiede zu Steiners Dreigliederungsidee gibt, zeigen folgende Ausführungen Pannekoeks, dass die Vorstellungen doch nicht so weit auseinander liegen und von einer Fixierung auf den Staat keine Rede sein kann:

„Der ehemalige Direktor oder Fabrikbesitzer, der bereit war als technischer Leiter weiter mitzuarbeiten — unter Kontrolle des Arbeiterrates — kann mit den anderen Arbeitern der Fabrik gleichberechtigt mitbestimmen. Die geistigen Berufe, die Aerzte, die Lehrer, die Künstler, bilden ihre eigenen Räte, die bei den sie berührenden Fragen mitbeschließen. All diese Räte bleiben stets in engster Verbindung mit den Massen, da sie fortwährend neu delegiert werden müssen und durch andere ersetzt. In solcher Weise muß dafür gesorgt werden, daß sich aus ihnen keine neue Bürokratie bildet; und dies ist möglich, weil zugleich durch intensive Lern- und Lehrtätigkeit die nötige Fähigkeit kein Monopol Einzelner bleibt.“[3]

In einer anderen Schrift schreibt Pannekoek:

„Die die Arbeit verrichten, regeln sie auch. Als Mitglied der Gemeinschaft hat jeder Einzelne sich nicht nur an der tatsächlichen Arbeit zu beteiligen, sondern auch an der Planung, der Organisation, der geistigen Führung. Wo der Kapitalist die Organisation befehligt und das Ganze überblickt, gilt, was Frölich ausdrückt: die Einzelnen, auch die Techniker, arbeiten blind, ohne zu wissen, was sie schaffen. Wo jedoch die Gemeinschaft die Organisation der Arbeit selbst entwerfen, beschließen und durchführen muß, durchschaut und weiß sie auch, was sie schafft. Und jedes Mitglied der Gemeinschaft, weil es mit diskutiert, beschließt und ausführt, hat Teil an dieser Erkenntnis. Daß es ein Teil eines organischen Ganzen ist, ist dann nicht ein Übel, sondern ein Glück, keine Erniedrigung seiner Persönlichkeit, sondern eine Erhebung.“[4]

Mosmanns Kritik an einer Haltung, die für alle Fragen eine Lösung vom Staat erwartet, ist vor allem in Bezug auf eine Verklärung des Keynesianismus berechtigt, wie sie in Teilen der Sozialdemokratie anzutreffen ist. Ein Fehler ist es jedoch, diese Haltung pauschal auf alle gesellschaftskritischen Bewegungen zu münzen und sie mit der Frage der Vergesellschaftung von Kapitaleigentum zu vermischen – tatsächlich ist der Privatbesitz an Produktionsmitteln das größte Hindernis für eine bewusste Gestaltung der Gesellschaft im Interesse der Menschen. Solange der Privatbesitz an Produktionsmitteln die Herrschaft über die Existenzgrundlage der Menschen bedingt, kann von Partizipation und Demokratie nicht die Rede sein. Nach Mausfeld geht es nicht darum, dass über Einzelentscheidungen in einem Betrieb die Allgemeinheit abstimmt, sondern dass es keine autonomen autoritären Machtzentren in einer demokratischen Gesellschaft geben kann, wie es heute in der Wirtschaft der Fall ist.[5] Die Eigentumsfrage zu stellen bedeutet also nicht automatisch, einer staatlich gelenkten Planwirtschaft das Wort zu reden!

Für die heutigen Bewegungen, die sich für eine Humanisierung der Gesellschaft und damit für eine Demokratisierung im umfassenden Sinn einsetzen, schlägt Mausfeld als „Rahmenerzählung“ die Rückkehr zum radikaldemokratischen Teil der Aufklärung vor. Die Allgemeinheit, in der er diese Grundsätze formuliert, lässt Raum auch für Ideen wie dem Dreigliederungsgedanken. Gleichzeitig stehen sie in unversöhnlichem Gegensatz zu den herrschenden Verhältnissen, die von totalitären Strukturen in der Wirtschaft, von einer Unterwerfung des Geisteslebens unter die Bedürfnisse der herrschenden Machteliten (wenn man z.B. den Mainstream-Journalismus betrachtet) und von einem Abbau demokratischer Rechte im Rechtsleben gekennzeichnet sind.[6]

Georg Klemp

Anmerkungen

[1] Vgl.: Rainer Mausfeld: Elitendemokratie und Meinungsmanagement, SWR Tele-Akademie, https://www.youtube.com/watch?v=ZNzvIY-BrVk

[2] Vgl. den Vortrag von Rainer Mausfeld: Neue Wege des Demokratiemanagements, ab Min. 35 https://www.youtube.com/watch?v=1x8x9NokCZ0

[3] Anton Pannekoek: Bolschewismus und Demokratie, in: Arbeiterpolitik, 3. Jg, Nr. 50, 14. Dezember 1918, S. 303–4, zu finden unter https marxists://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1918/12/14b.htm

[4] Anton Pannekoek: Die Arbeit im Sozialismus, in: Funken 5, Nr. 11 (1954): 168-70, zu finden unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1952/03/arbeiterraete.htm

[5] https://www.youtube.com/watch?v=9t40guoRABU, Das Thema wird besonders ab Minute 41 besprochen

[6] Mosmann fragt danach, wann es in der Vergangenheit denn demokratischer zugegangen sei. Mausfeld verweist in diesem Zusammenhang auf einen Klassenkompromiss, den es nach der Niederlage des Faschismus gegeben habe. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus kamen die demokratischen Rechte, die nach 1945 errungen wurden, wieder unter die Räder. Das heutige Rechtsleben ist von einer zunehmenden Selbstermächtigung der Exekutive gekennzeichnet.